Ich bin Anatol

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Ich schaue in den Spiegel und erkenne mich kaum wieder. Wow, Anatol Kupfer! Kleider machen wirklich Leute! Ich rücke die graue Seidenkrawatte zurecht, die mehr kostet, als ich in einem Monat verdiene. Nun, ich bekam sie von meinem Vater geschenkt, der auch kein Krösus ist. Jedoch befindet sich das schlecht laufende Geschäft „Kupfer- Krawatten" seit zwei Generationen im Besitz unserer russisch- jüdisch stämmigen Familie und meine Eltern sind stolz darauf. Obwohl kein Mensch heutzutage noch exklusive Krawatten in einem Krawattengeschäft kauft, und schon gar nicht in dem Kaff Bargstedt bei Hamburg!

Nun trage ich diese edle Krawatte, die prima zu dem dunkelblauen Anzug passt. Nein, ich bin nicht auf dem Weg zu einer Hochzeit oder einer Beerdigung. Heute ist mein erster Arbeitstag als persönlicher Assistent von Christina Schwartz, der Marketing- Direktorin der großen Hamburger Firma Schwartz&Söhne Co KG. Und sie ist auch noch die Tochter des Geschäftsführers. Ich brauche dieses Praktikum für den nächsten Schein, richtig Lust habe ich nicht darauf. Mein Vater möchte, dass ich irgendwann „Kupfer- Krawatten" übernehme und dafür studiere ich in Hamburg Betriebswirtschaft, mehr oder weniger erzwungen.

Onkel Mischa, bei dem ich während des Studiums wohne, betritt den Flur und pfeift anerkennend.

„Anatol, du siehst ja richtig erwachsen aus!"

„Ich bin erwachsen!" brumme ich. 

Schließlich bin ich im letzten Monat vierundzwanzig geworden! Mischa lacht nur und sagt:

„Soll ich dich wirklich nicht mitnehmen? Der Überseering ist ganz schön weit weg. Mit dem Fahrrad brauchst du bestimmt eine Stunde."

„Nein, danke. Bis heute Abend, Onkel."

Ich gebe ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und will schon weiter, doch er hält mich fest und schaut mich ernst an.

„Weißt du eigentlich, wie stolz wir auf dich sind, mein Junge?"

„Hm.." nicke ich zögerlich. "Ich muss los, Tschüß."

Ich schwinge mich auf mein Rad und fahre los. Onkel Mischa hat nur zum Teil Recht. Mutter stirbt täglich tausend Tode, weil ihrem kleinen Anatol in dieser Höllenstadt Hamburg etwas Schlimmes zustoßen könnte und Vater ist der Meinung, ich hätte bei ihm eine anständige Ausbildung machen sollen. Doch ich wollte weg, raus aus diesem Kaff, wo jeder jeden kennt und ich den Stempel „Freak" weg habe. Denn leider bin ich, Anatol Kupfer, mit einem kleinen Geburtsfehler zur Welt gekommen und habe anstatt eines Hodensacks eine Vagina, was meine Eltern dazu verleitete, mich bis zur Pubertät als Mädchen auszugeben! Doch ich bin ein ganzer Kerl, das Ding da unten wuchs und gedieh, und auch die Funktion lässt nicht zu wünschen übrig. So wurde aus Anastasija irgendwann Anatol, was meine beste Freundin Kati locker hin nahm, denn sie kannte mich immer als wilden Tomboy. Meine Eltern jedoch versteckten mich nach der Schule im Geschäft, wo ich Krawatten sortierte. Nach der Umbenennung hatten mich die anderen Kinder auf dem Kieker und da ich mich schon als Mädchen oft geprügelt hatte, nahm es als Junge zu. Vor allen Dingen, weil ich durch die Hormone immer stärker und wütender wurde. Ich bekam Stubenarrest, den ich eh schon hatte, also prügelte ich weiter, bis Lehrer und Eltern beschlossen, mich auf ein fernes Internat zu schicken, wo mir ein Neuanfang als Anatol gelang. Niemand wußte dort, dass ich als Mädchen geboren war. Ich wurde zum Streber, nun, ich hatte ja kaum Freunde und verbrachte meine Freizeit mit exzessivem Sport und Lernen, sodass ich das Abi locker schaffte. Man kann sich vorstellen, dass ich es mit den Mädchen nicht leicht hatte, da ich da unten nicht vernünftig ausgestattet bin und das Geld für eine Operation immer fehlte. Nachdem ich einmal beim Herummachen von einem Mädchen ausgelacht wurde, ließ ich die Finger von dem schönen Geschlecht und so kommt es, dass Anatol Kupfer noch Jungfrau ist!

Hier in Hamburg bin ich einer von vielen und halte mir die Frauen vom Leib. Ich gebe mich als schwul aus, gehe fast nie auf Partys. Und ich kompensiere meinen Frust mit Sport: Laufen, Kampfsport und Krafttraining. Außerdem habe ich noch einen Nebenjob als Fahrradkurier, um das Studium finanzieren zu können. Meine Wochenenden verbringe ich brav mit meinen Eltern. Mein Vater ist im letzten Jahr an Krebs erkrankt und braucht Unterstützung, obwohl er es nicht zugeben will. Ich helfe ihm im Laden und gehe mit meiner Sandkastenfreundin Kati ins Kino oder Essen.

Das ist mein kurzer Lebenslauf, den ich so natürlich nicht für das Praktikum eingereicht hatte!

Der Held der KrawattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt