Ich fahre heim und sehe Mischas Wagen in der Auffahrt stehen. Was macht er hier? Ich verziehe mich still auf mein Zimmer und zwei Minuten später klopft es. Mutter, natürlich.
„Wie kannst du mir das antun? Ich habe die ganze Nacht auf einen Anruf von der Polizei gewartet, dass sie mir sagen, du wärst..." keift sie.
„Mutter, ich lebe noch. Bitte, beruhige dich. Und jetzt lass mich alleine."
Ich knalle ihr die Tür vor der Nase zu. Das geht jetzt überhaupt nicht. Ich bin immer noch gefrustet, hungrig und übernächtigt und weiß nicht, ob ich mich unter Kontrolle habe. Ich will ihr nicht noch mehr weh tun.
Ich lasse den PC hochfahren, um meine Mails zu checken. Gestern kam ich nicht dazu und ich erwarte eine wichtige Mail von unserem Steuerberater. Ich mache mir Cornflakes und öffne das Mailprogramm. Mein Herz bleibt stehen.
Mail von tina_schwartz@ gmail.com Freitag, 13.03.2015 21.34
Lieber Anatol,
Ich habe von deinem Onkel erfahren, dass du zurück in Bargstedt bist. Er hat mir erzählt, dass dein Vater gestorben ist, das tut mir wirklich leid! Ich wünschte, ich dürfte dich trösten.
Ich möchte dich auch nicht lange belästigen, der Grund für meine Mail ist, dass ich dir gerne eine Bescheinigung über die vier Wochen, die Montag vorbei wären, ausstellen möchte. Dazu brauche ich aber noch ein paar Daten von dir. Das ist das Wenigste, was ich für dich tun kann, denn ich möchte, dass du dein Studium bald abschließen kannst und nicht meinetwegen ein halbes Jahr dranhängen musst.
Ja, meinetwegen, denn ich bin Schuld an der ganzen Geschichte und es tut mir so leid! Ich hätte das nicht mit dir tun dürfen, denn ich war deine Chefin und hätte für dich sorgen müssen. Ich habe mich wie ein alberner Teenager benommen und tue das irgendwie immer noch. Ich denke jeden Tag an dich, kann dich einfach nicht vergessen.
Ich wünsche dir alles, alles Gute in deinem Leben und beneide die Frau, die in den Genuss deiner Liebe kommen darf. Sie wird es wirklich verdient haben!
Mein Vater lässt dich grüßen. Er ist stinksauer auf mich, du weißt ja, mit mir schimpfen sie ständig. Und dieses mal zu Recht.
Ich vermisse dich,
XX, Tina
P.S. Im Anhang findest du das Formular, das ich brauche. Schick es mir bitte schnell zurück.
Ich lese die Mail mehrmals, bevor ich auf „antworten" klicke. Doch bevor ich etwas schreibe, springe ich auf, laufe hin und her, wälze meine Möglichkeiten, dann setze mich wieder hin, tippe:
Liebe Tina,
Springe wieder auf, und das Ganze wieder holt sich drei- oder viermal, bis ich beschließe, erst einmal laufen zu gehen, bevor ich aus Impulsivität irgendeinen Stuss abschicke. Doch nach Em ist mir heute nicht, ich höre lieber etwas Soul, den "50- Shades"- Soundtrack, den ich mir von ihr kopiert habe. Natürlich fällt das zu ihren Gunsten aus, weil mich jeder Song an ihren Kopf auf meiner Schulter erinnert, ihren Körper an meinem, besonders "Earned it". Mann, sie schreibt, dass sie immer noch an mich denkt. Natürlich, sagt der kleine Teufel in mir, sie vermisst deine Zunge. Welche Frau kriegt es schließlich so gut besorgt und muss nichts dafür geben! Nein, es war mehr, das weißt du ganz genau, sagt Engelchen.
Ich laufe heim, gehe duschen und fahre dann mit Mutter und Mischa los. Unser Samstags- Ritual, erst der Großeinkauf, dann Mittagessen beim Fleischer. Doch dieses Mal ist statt Vater Mischa dabei. Ich frage ihn nach Veronika und er sagt, dass sie zu jung für ihn sei, er hätte sich nach der Beerdigung von ihr getrennt, nachdem sie mit einem Cousin aus Kaluga herum geknutscht hatte. Mutter schaut entsetzt und ich muss grinsen. Mischa entschuldigt sich bei ihr, und ich denke daran, dass mir schon als Kind oft aufgefallen ist, dass er sie manchmal, in unbeobachteten Situationen, angehimmelt hat. Warum auch immer, aber wo die Liebe hin fällt, was? Nun, ich denke, er wird noch öfter hier sein.
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Der Held der Krawatten
General FictionAnatol Kupfer, unser Held, hat ein Geheimnis. Etwas, was er auch in unserer ach so modernen, verständnisvollen Welt vor allen Menschen versteckt, denn er hat deswegen viel Ablehnung erfahren. Nun muss er ein Praktikum absolvieren und dummerweise i...