Krawattenträger sind out- Kapitel 1

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Ich bin tatsächlich spät dran, denn der Verkehr ist die Hölle. Als ich endlich am Überseering angekommen bin, sehe ich mit Entsetzen, dass alle Fahrradständer überbelegt sind. Ich suche verzweifelt nach einem freien Platz, was noch mehr Zeit frisst. Es ist zehn nach acht und ich befürchte, dass mich diese Schwartz, die sicher ein zugeknöpftes Arbeitstier ist, gleich am ersten Tag runterputzen wird. Ich habe sie extra nicht gegoogelt, um nicht voreingenommen zu sein. Ich werde es ja sogleich erleben! Während ich auf der Suche bin, kommt eine junge Frau auf ihrem Rad angefahren. Ich blicke auf und sehe, dass sie genervt die Augen verdreht, als sie den vollen Fuhrpark entdeckt. Sie trägt eine graue Mütze und ist dick in einen olivfarbenen Parka eingepackt- ja, der Ostwind weht heute scharf, doch mir hat er noch nie etwas ausgemacht. Hm, die Frau gefällt mir auf Anhieb und erst recht, als sie mich fröhlich anspricht:

„Hey, ist mal wieder ganz schön voll hier, was? Komm mit, ich habe einen Geheimtipp."

Sie lächelt mich süß an und mein Herz macht einen Satz. Ich lächle zurück und nicke. Dann geht sie um zig Ecken des riesigen Firmenkomplexes, und plötzlich sehe ich einen Stellplatz, der laut Schild der Geschäftsleitung gehört. Sie schiebt ihr Rad an die Wand und sagt:

„Stell es einfach daneben."

„Aber... gehört der Platz nicht..." stottere ich, denn sie schaut mich direkt an. Ihre Augen sind von einem wunderschönen, warmen Braun, und ich frage mich ernsthaft, was heute morgen in meinem Tee war. Verdammt, ich benehme mich wie ein Teenager! Die Frau antwortet:

„Das geht schon in Ordnung, hier steht nie jemand. Oh, ich bin spät... mach's gut, und einen schönen Arbeitstag!" ruft sie mir zu und ist schon durch einen Hintereingang verschwunden.

Ich schließe mein Rad ab und laufe um das Gebäude, um den Haupteingang zu finden. Schließlich stehe ich um halb neun vor dem Büro der Personalleitung und klopfe. Mein Herz rast immer noch, aber nicht, weil mich die Treppen geschafft haben, sondern von der kurzen, aber intensiven Begegnung mit der Unbekannten.

„Herein!" ruft eine energische Frauenstimme und dann stehe ich vor Tanja Schilling, der Personalleitung der Direktionsebene. Sie sieht so aus, wie ich mir Christina Schwartz vorstelle- zugeknöpftes, elegantes Kostümchen, klapperdürr und ein vergrätzter Gesichtsausdruck. Gut, ich bin spät. Wahrscheinlich kann ich gleich wieder gehen.

„Herr Kupfer, es wird Zeit. Pünktlichkeit ist eine Tugend! Hier, die Schlüssel für..."

Sie redet, ohne abzuwarten, was ich zu sagen habe. Und lässt mich zig Formulare unterschreiben, gibt mir einen Ausweis- HERR KUPFER, ASSISTENT der DIREKTION- wow! und Schlüssel. Dann ruft sie jemanden an, der mich abholen soll. Kurze Zeit später betritt eine ältere Frau mit kurzen, grauen Haaren, Tweedrock und Bluse den Raum. Sie guckt genauso miesepetrig wie die Schilling. Na, das wird ein schöner Spaß!

„Herr Kupfer, ich bin Frau Koch, die Sekretärin von Frau Schwartz. Folgen sie mir."

Auch sie wartet keine Begrüßung meinerseits ab. Nun, gute Manieren und Freundlichkeit gibt es wohl  nur in den unteren Etagen, zu der bestimmt die Frau mit den hübschen Augen gehört. Und sie hier wieder zu treffen, sie unter 200 Mitarbeitern zu finden, ist wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Wie schade. Im Fahrstuhl mustert mich die Koch und sagt dann:

„Sie sind spät."

„Entschuldigen sie. Wird nicht wieder vorkommen."

„Das hoffe ich."

Wir schweigen, und mir graut davor, die nächsten vier Wochen an ihrer Seite verbringen zu müssen. Eigentlich soll ich der Schwartz assistieren, doch genau weiß ich nicht, was auf mich zukommen wird.

„Da sind wir. Das ist ihr Platz. Fahren sie ihren Rechner schon mal hoch."

Frau Schilling hatte mir einen Umschlag mit einem persönlichen Login übergeben und ich freue mich, dass meine erste Aufgabe so einfach ist. Während der Computer hoch fährt, schaue ich mich um. Wir sitzen in einem großen, sterilen Raum, am Ende führt eine Tür ins „Vorzimmer C. Schwartz". Außer meinem Schreibtisch stehen hier noch zwei weitere Arbeitsplätze, sie sind jedoch nicht besetzt.

Frau Koch beäugt mich und sagt dann, als könne sie Gedanken lesen:

„Frau Schwartz hat es nicht so mit Personal. Die anderen wurden versetzt, jetzt bin nur noch ich da. Und ich habe sehr viel zu tun."

Ich will gerade fragen, ob Frau Schwartz genauso misanthropisch sei, doch ich verkneife es mir. Auf jeden Fall wird sie in meiner Vorstellung immer unsympathischer. Den Vormittag verbringe ich am PC, sortiere Daten hin- und her und sehe nicht einmal einen Rockzipfel von der Frau, deren Assistent ich sein soll. Ich schaffe es, die Koch zu überraschen, in dem ich meinen Auftrag in Rekordzeit abschließe und sie zeigt erstmalig so etwas wie ein Lächeln. Dann schickt sie mich zu Tisch und ich hoffe inständig, die hübsche Fahrradfahrerin zu treffen, doch ich sehe sie nicht. Ich bringe kaum Essen herunter und gehe schließlich nach einer Viertelstunde wieder in den 4. Stock, die Direktionsetage. Ich nutze die Treppe, da ich eine leichte Agoraphobie habe. Als ich an dem Büro der Geschäftsleitung vorbei gehe, höre ich fröhliches Gelächter. Na, toll, hätte mich nicht Herr Schwartz selbst zum Assistenten machen können? Eine hübsche, üppige Blondine öffnet die Glastür, und ich erhasche mit einem Blick, dass Herr Schwartz gleich fünf Sekretärinnen hat! Die Blondine mustert mich amüsiert.

„Hm, kann schon verstehen, warum Tina 'nen Kerl haben wollte!" ruft sie über die Schulter und die anderen kichern. Ha, ha! Ich verziehe den Mund und gehe einfach weiter, in mein verlassenes, düsteres Büro, das mich an unser olles Krawattengeschäft erinnert. Tina! Weiß die Schwartz, dass so über sie gesprochen wird? Frau Koch kommt aus dem Vorzimmer und legt mir einen Stapel Aufträge hin, die ich bearbeiten soll.

„Äh, werde ich Frau Schwartz heute noch sehen?" murmele ich.

Sie schüttelt den Kopf.

„Nein. Sie musste weg. Ich soll ihnen Grüße ausrichten. Und nun los, das bearbeitet sich nicht von selbst."

Ich bin enttäuscht, dass das Fahrrad der hübschen Frau schon fort ist, als ich meines hole. Abends ruft Kati an und will alles genau wissen. Ich erzähle ihr von der Frau auf dem Fahrrad, und sie lacht.

„Hast du dich in sie verguckt?"

„Kati, ich habe sie gerade mal eine Sekunde gesehen! Im Gegensatz zum Rest der Truppe war sie nett zu mir."

Dann berichte ich ihr von meinem Arbeitstag und danach heult sie sich bei mir über Dirk, ihre neueste Eroberung, aus. Es geht mal wieder darum, dass er im Bett 'ne Schlaftablette ist, wie alle ihre Kerle. Ich weiß nicht, ob sie zu hohe Ansprüche hat oder immer an die Falschen gerät. Ich tippe auf Zweiteres. Ich rate ihr, ihm noch etwas Zeit zu geben, was soll ich sonst sagen... nun, ich bin kein Experte in diesen Dingen. Sie wünscht mir noch einen schönen Abend. Dann rufe ich Mutter an und berichte knapp, dass alles in Ordnung ist.

Natürlich erwähne ich nicht, dass ich zu spät gekommen bin.

Der Held der KrawattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt