Kapitel 15 - Drake

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(Level 3; Gefängnis - Level 2; London)


Ich taumelte zurück, packte Will am Arm und switchte. Mein Hirn arbeitete nicht mehr. Ich hatte nicht nachgedacht, was ich getan habe. Das Denken funktionierte erst in Level 2 wieder. Wir standen mitten auf einer Straße. Keine Ahnung, auf welcher Straße. Doch in London. Ich hörte das Surren. Dann hörte ich Will aufschreien. Ein Auto hatte ihn gerammt. Ich eilte ihm zur Hilfe. In meiner anderen Hand hatte ich immer noch Victorya im Schwitzkasten, doch das bemerkte ich nicht. Ich vergaß sie. Ich sperrte sie vollkommen aus meinen Gedanken.

Will kam wieder auf die Beine. Er hielt seinen Arm. Seine Augen waren voller Tränen. Seine Blicke waren mit tiefer Trauer und endloser Verzweiflung gefüllt.

Wir drängten uns vor zur Fußgängerzone. Will hielt seinen Arm und verzog das Gesicht.

Ich sah mich um. Wo sollte ich hin. Es gab kein Versteck mehr. Und wie sollten wir bloß jemals wieder Dad finden? White kannte unsere Namen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie uns löscht. Jede Sekunde könnte meine letzte sein. Und Wills Arm war voller Blut. Ich sah, wie die Kräfte aus seinen Gliedern schwanden.

„Drake!", rief James, Dads Freund, den wir aus Untergrund 3 befreit hatten.

„James?!", rief ich. „Was machst du hier?"

„Lange Geschichte. Kommt!", rief er und zog uns durch die summende Menschenmasse in ein Haus. Will wurde hinterher geschleppt und Victorya blieb stumm in der Zwickmühle. Wir liefen in den obersten Stock. Die Treppe war alt und dreckig. James brachte uns in eine Wohnung und schloss die Tür ab.

„Wie ...?", fragte Will James. Seine Stimme war schwächer als sonst.

„Ich habe herausgefunden, dass mit Jane etwas nicht stimmt. Es war nur eine Ahnung. Also habe ich etwas anderes gesucht. Ich habe mir ... ein Ass im Ärmel besorgt.", meinte James.

„Scheiße, James!", brüllte Will. „Warum hast du nicht früher etwas gesagt?!"

„Hättest du ihm geglaubt?", antwortete ich für James und sah ihn traurig an.

„Aber, ... Wo ist Dad? James, wo ist Ben?!", fragte Will. Seine Stimme war rau. Seine Augen waren bis zum Rand mit Tränen gefüllt.

„Will, ich bin hier.", sagte Dad und kam aus einem Zimmer heraus. Will starrte ihn an.

„Wir müssen zu diesem Computer!", sagte er.

„Will, reg dich ab. Zuerst solltest du dich um deinen Arm kümmern."

„Scheiß auf meinen Arm, in einer Stunde bin ich vielleicht tot! In einer Stunde sind wir vielleicht alle tot!"

„Nein. Sind wir nicht. Wie kannst du so etwas nur sagen?"

„Wie kannst du das nur verneinen?!"

„Drake.", wendete sich Dad an mich. „Was macht sie hier?"

Ich sah Victorya an. Ihre blauen Augen starrten mich ängstlich an. Dann sah ich zurück zu Dad.

Victorya war ein Killer. Killer switchen genauso wie wir, nur dass das Mal auf ihrer Hand nicht mehr ist als eine leichte Rötung.

„Bring sie um!", sagte James kaltherzig.

„Nein!", brüllte Victorya und sah mich mit flehenden Augen an.

„Vielleicht kann sie uns Informationen geben. Über das Sicherheitssystem.", meinte ich und versuchte vergebens meine Stimme ruhig zu halten.

„Woher willst du wissen, dass sie uns nicht anlügt?", fragte James. „Sie ist nur ein Risiko. Nichts weiter."

„Vielleicht könnte Dad einen Apparat bauen und -", meinte Will

„Nein, kann ich nicht!", rief Dad. „Bring sie einfach um!"

„Ich bin Whites Tochter!", rief Victorya. „Bitte." Ihre Stimme war zittrig und ihr Augen voller Tränen. „Bitte. B-Bring mich nicht um."

„Sie blufft.", meinte James. „White hat keine Tochter!"

„Keine von der sie erzählt.", überlegte ich laut.

„Vielleicht kümmern wir uns doch lieber zuerst um meinen Arm.", warf Will dazwischen. Er verzog das Gesicht, als er versuchte, ihn zu bewegen.

James führte uns zu einem Sofa in einem staubigen Raum. Das goldene Licht der Abendsonne strahle durch die verschlossenen Vorhänge. Dad verband Wills Arm und ich kümmerte mich um Victorya. Dad gab mir die Handfessel von Will, die er nach einigem Herumprobieren und mit technischer Hilfe doch noch abbekommen hatte, und ich legte sie Victorya an.

„Du bist ein richtiges Arschloch, weißt du das?", meckerte sie. Ich sah sie stumm an und antwortete nicht. Da die Fenster und die Eingangstür abgeschlossen waren, durfte sie sich frei bewegen. Doch sie wurde auf Schritt und Tritt immer genauestens beobachtet.

„Was hast du jetzt vor, Dad?", fragte Will.

„Ich habe nichts vor. Ohne euch kann ich diese Sache nicht vollenden. Was habt ihr vor?", entgegnete Dad.

„Sterben.", antwortete ich. Will saß auf dem Sofa und spielte mit einem Messer. Er warf es in die Luft. Es drehte ich. Dann fing er es wieder. James und Victorya lehnten an der Wand.

„Euch fehlt der Optimismus.", meinte James. Was mischt der sich da jetzt ein?! Er hat doch gar keine Ahnung!

„Wir haben keine Ahnung, wo wir suchen müssen! Wir könnten jederzeit sterben und einer von uns ist gestorben!", brüllte ich. „Versuch du doch mal optimistisch zu sein!" Und ich spürte wie meine Augen heiß wurden. Nein. Jetzt nicht weinen. Nicht jetzt!

Will starrte trübsinnig an die Wand. „Wir sind die Letzten. Die aller Letzten. Und ... und es ist niemand da, der etwas tun kann. Es gibt ... nur noch mich ... Und Drake ..."

Es war so ruhig. Man hörte das Summen und Rauschen der Straßen. Es würde sowieso keiner merken, wenn wir sterben ...

„Diese hinterlistige Schlange hat ihn einfach umgebracht! Ohne mit der Wimper zu zucken!", schrie Will plötzlich. „Er ist weg! Einfach weg! Und das nur ... nur ... weil wir dachten ..."

Ich spürte, wie Victorya ihn ansah.

Er merkte es auch. Angespannt drehte er den Kopf zu ihr. „Soll ich dich für sie zahlen lassen, oder was, Engelchen?", zischte er und wollte auf sie zustürzen, doch Dad hielt ihn zurück.

„Bring sie weg, Drake.", befahl James.

Ich packte sie und schob sie in ein anders Zimmer. In ein Schlafzimmer. Ich setzte mich aufs Bett, sie stand gegenüber von mir an der kahlen Wand. Die Hände verschränkt musterte sie mich. Ich starrte sie stumm an.

„Es tut mir Leid.", flüsterte sie. Ihre Stimme war so zart, hörte sich an, als könnte man sie zerbrechen.

„Ach ja?!", flüsterte ich abwertend zurück. Dann sagte sie eine Weile gar nichts.

„Es tut mir wirklich leid. Alles.", wiederholte sie.

Ob sie da ernst meinte? Sicher nicht. Sie war Whites Tochter! Angeblich ... Ich sagte nichts und saß einfach nur da. Ich wollte nicht zu einem Menschen der mir zuwider war aufsehen, also stand ich auf.

„Mir auch.", flüsterte ich. Und es kam mir vor, als würden diese Worte noch ewig in der Luft hängen. Es kribbelte in allen meinen Nerven, als ihre Hand meine Schulter berührte. Es fühlte sich gefährlich, verboten und aufregend an. Ich gab mich eine, vielleicht zwei Sekunden diesem Gefühl hin, doch schubste sie dann von mir weg.

„Sam ist darauf reingefallen. Ich möchte nicht auch tot am Boden liegen.", meinte ich und musterte sie.

„Wenn ich dich töten wollte", hauchte mir Victorya ins Ohr, „hätte ich das schon lange getan."

„Und warum hast du nicht?", flüsterte ich.

Sie sah mich mit großen Augen an und lief aus dem Zimmer. Halten sich Frauen immer für so genial? Müssen sie immer so unheimlich sexy sein?!

Ich lief ihr hinterher.


Level 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt