31. Kapitel

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Justin (PoV)

Als ich sah, was Venice an ihrem Unterarm hatte, blieb mir der Atem stehen. Ich wusste genau was das war, denn ich hatte es schon oft gesehen. Mein Puls beschleunigte sich immer mehr und die Wut stieg in mir hoch. "Venice! Was ist das?", fragte ich aufgebracht. Ich griff nach ihrem Arm und zeigte auf die vielen Narben. "Justin, ich kann dir das erklären." Na, auf die Erklärung bin ich aber gespannt. Sie holte tief Luft, doch ihren Arm hielt ich immer noch fest.

"Du weißt ja, dass ich früher von dem Sohn von Mom's zweitem Ehemann verlassen wurde. Nun ja, ich habe ihn geliebt. Wirklich! Er war meine erste große Liebe und dann geht er einfach weg, Es fühlte sich an als hätte er mich mitgenommen. Nicht meinen Körper, sondern meine Seele. Das was mich lebendig macht und lebendig fühlen lässt. Die Tage strichen an mir vorbei und ich wurde depressiver und depressiver. Ich wusste nicht was ich machen sollte. In der Schule habe ich mich zurückgezogen, in meiner Freizeit saß ich nur heulend im Bett und gegessen habe ich auch nichts mehr. Einen Tag habe ich mich entschlossen mal wieder Fernseh zu gucken, um mich abzulenken. Es lief eine Doku über das Ritzen und seine Folgen. Ich konnte mir das nicht mit ansehen, weil das zu viel Blut für mich war. Genau an diesem Tag war ich alleine zuhause und als ich so weinend auf der Couch saß, griff ich spontan nach der Schere, mit der ich vorher die Kaffeetrinkflasche aufgeschnitten hatte. Ich wollte es nicht tun, aber es tat gut. Dieses Gefühl vom Leben. Du verstehst das bestimmt nicht, aber das Blut hat mir gezeigt, dass ich lebe."

Sie schluckte und schaute verlegen zu Boden. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie hatte recht. Ich verstand es nicht. Wie sehr kann ein Mensch innerlich Schmerzen haben, dass er sich äußerlichen Schmerz zufügt, um den anderen Schmerz zu vergessen?

Mein Griff hatte sich inzwischen gelockert, aber erst als sie sich anfing zu kratzen, merkte ich wieder, dass sie ja immer noch vor mir stand. "Hör auf damit!", hauchte ich immer noch geschockt. "Aber jetzt habe ich wieder das Verlangen. Justin kannst du bitte gehen?" Wie bitte? "Nein, Venice! Ich werde dich jetzt garantiert nicht alleine lassen." Ohne das sie antworten konnte, umarmte ich sie und schon wieder spürte ich dieses merkwürdige Kribbeln im Bauch. Ich sollte mal zum Arzt gehen.

"Justin." Die Art, wie sie meinen Namen sagte, war schon...naja...ganz angenehm. "Ich werde nicht gehen." Sie erwiderte nichts. "Tu mir weh.", platzte es aus mir heraus. "Was?", fragte sie genau so erschrocken wie ich. "Ja. Wenn du es tun möchtest, dann bei mir." Ruckartig löste sie sich von mir und sah mir in die Augen. "Spinnst du? Ich könnte dir nie wehtun.", sagte sie leise nuschelnd und biss sich danach auf die Lippe. Man dieses Mädchen machte mich verrückt!

Ich musste sie jetzt ablenken, weil sie zu viel an das Ritzen dachte. Aber ich wollte ihr helfen und dazu brauchte ich mehr Informationen. "Wo hast du es gemacht? Und wann war das letzte mal?" Kurz nachdem ich es gefragt hatte, hob sie ihr Croptop hoch und dieser Anblick erschrak mich.

Überall waren Narben ab ihrem Bauchnabel aufwärts. Und es waren keine hellen, verwachsenen Narben, nein, es waren blutrote Narben. Bevor ich sie erneut fragen konnte, wann sie es das letzte mal gemacht hatte, zog sie ihre Socken aus und schob ihre Hose weit runter. Sie stand vor mir in Unterwäsche und es war unglaublich. Sie ist so wunderschön, aber die Narben verunstalten ihren ganzen Körper. Gott sei Dank guckte sie mir beschämt in die Augen, denn wenn sie weiter runter geguckt hätte wäre es peinlich geworden für mich.

"Das letzte Mal war gestern nach der Schule.", gestand sie mir. "V?", fragte ich sie. "Was ist?" "Wenn du es das nächste mal tuen willst, komm zu mir rüber, okay? Ich nehme dich dann in den Arm und lass dich nie wieder los." Wow, wo kam denn das jetzt her? Ich werde ja immer besser im flirten. Egal. "Du bist echt süß.", flüsterte sie, aber ich hörte jedes Wort ganz deutlich. "Die Tatsache, dass du nur in Unterwäsche vor mir stehst, ist etwas unangenehm für mich."

Sofort zog sie sich wieder an und ging aus dem Badezimmer. Mit einem genervten Stöhnen folgte ich ihr in ihr Zimmer. Sie saß still auf ihrem Bett und schaute ins Nichts. "Was ist los?", fragte ich sie und ließ mich neben ihr nieder. "Weißt du, Justin, ich dachte ich hätte alles verloren. Ich dachte, es gibt keinen anderen Ausweg mehr für mich. Egal was ich tat, es fühlte sich falsch an. Und als mir Mom dann auch noch sagte, dass wir umziehen würden, brach meine Welt komplett zusammen. Ich hatte keine Lust, mich neuen Menschen zu offenbaren. Ich wollte nicht, 'die Neue' sein. Ich wollte nicht mehr." "Was wolltest du nicht mehr?", unterbrach ich sie. "Leben.", schluckte V. Aber auch ich musste schlucken. Wir schauten uns tief in die Augen und es war so, als könnte sie genau das Empfinden, was ich damals bei meinem Selbstmordversuch empfunden habe. Es war so erleichternd zu wissen, dass es einen Menschen gab, der mich verstand, der das gleiche durchgemacht hatte wie ich, dem ich meine Situation nicht erklären musste.

"Ich weiß, dass das absurd klingt, aber es ist schön einen Menschen zu kennen, der das gleiche durchmachen musste, wie ich.", sagte sie wahrheitsgemäß. Konnte sie Gedanken lesen? Wohl kaum. Ich würde ihr so gerne sagen, dass ich das gleich denke, wie sie. Ich würde sie so gerne...

"Danke.", riss sie mich aus meinem Gedanken. "Wofür?" "Dafür, dass du mich in den Arm genommen hast, mir zugehört hast und ja einfach da warst. Danke." In meinem ganzen Leben kannte ich noch keinen Menschen, der sich so offen bedanken konnte und so offen über seine Vergangenheit und Gefühle sprechen konnte. Wahrscheinlich liegt das aber auch nur daran, dass ich bis jetzt nicht wirklich viel mit gefühlsvollen Menschen zu tun hatte. Aber es gefiel mir.

"Möchtest du was essen? Immerhin ist es schon gleich halb neun...", fragte sie mich. "Ähm...ja gerne. Geht das denn klar?" "Sicher. Mit dir komme ich schon klar.", lächelte sie mich an. Das war das erste Mal, dass ich sie an diesem Tag lachen gesehen habe. Ihr Lachen ist wirklich wunderschön.

Sie stand auf und machte sich auf den Weg in die Küche. "Ihr habt eure Wohnung echt schön eingerichtet." In diesem Moment hätte ich mir selber eine klatschen können, denn ich war gerade so nervös (ich weiß auch nicht wieso), dass ich die Wohnung lobte, obwohl in der Wohnung keine einzige Wand gestrichen war und noch überall Kartons rumstanden.

"Okay? Ist Brot mit Käse auch in Ordnung?", fragte sie etwas verunsichert. Anscheinend war auch sie leicht nervös. Das brachte mich zum Grinsen. "Ja klar ist das in Ordnung.", nickte ich ihr zu. Venice drehte sich um und ging an die Brote für uns zu schmieren.

Ein Beat, der mir bekannt vorkam, erschrak mich kurz. "Ist das 'Hotline Bling'?", fragte ich genervt, obwohl ich die Antwort schon kannte. "Magst du das nicht?" Sie hörte abrupt auf die Brote zu schmieren und sah mich ganz entsetzt an. "Doch klar, aber in letzter Zeit hört das so gut wie jeder und ich kann es einfach nicht mehr hören. Hast du noch was anderes?" "Ne, weißt du, ich habe nur ein Lied auf meinem Handy.", gab sie frech zurück. Okay, diese freche Art, war jetzt schon einer meiner Lieblingsarten an ihr. Moment was?

different - j.b. #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt