Hilfesuchend schaute ich zu Ben, doch der sah genauso ratlos aus, wie ich mich fühlte. Unterdessen schrie Ms Fulton immer weiter. Langsam entfernte ich mich von dem Regal und hob beruhigend die Hände. "Schauen Sie, ich habe sie nicht angerührt, sie steht immer noch in dem Regal."
Die Augen der Frau hatten, während sie schrie, einen matten Ausdruck angenommen, als ob sie in Gedanken ganz wo anders wäre. Langsam trat der Glanz wieder zurück und ihre Schreie wurden immer leiser. "Muriel? Muriel, geht es dir gut?"
Verwirrt runzelte ich die Stirn. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Ben sich versteifte. Wer war diese Muriel? "Nein, Ms Fulton, ich bin es Mary. Ich helfe Ihnen im Haushalt, wissen sie noch?" Vorsichtig ging ich vor der alten Lady in die Knie.
Ihre von Altersflecken bedeckte Hand griff zitternd nach meiner. "Oh Gott, Kindchen, es tut mir leid. Es tut mir so leid." Tränen glitzerten in ihren Augen und eine Träne lief ihr über die Wange.
"Oma? Soll ich dich nach oben bringen? Dann kannst du dich ein wenig ausruhen." Ben schien sich wieder gefasst zu haben. Er hatte sich neben mich gekniet und musste nun ebenfalls hochschauen.
"Ach Kinder, versprecht mir, fasst die Kugel nicht an. Niemals. Versprecht es mir, versprecht es mir!" Ihre Stimme bekam einen leicht hysterischen Unterton.
Schnell nickten wir beide. Ich wollte wirklich keinen zweiten Ausbruch von ihr erleben. Der Eine war schon komisch genug und das nur wegen einer Schneekugel. Vorsichtig richtete ich mich auf. Ben tat es mir nach. "Soll ich dir helfen, oder kriegst du das alleine hin?"
"Das klappt schon. Warte du ruhig hier. Die Kekse müssten auch gleich fertig sein." Ben trat an seine Großmutter und half ihr aufzustehen. Dann legte er einen Arm um sie und half ihr zu der Treppe zu kommen. Bevor sie um die Ecke verschwanden, drehte Ms Fulton nochmal ihren Kopf zu mir und schaute mich mit ihren wässrigen Augen forschend an.
Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen und ich rieb zitternd darüber. Das Ganze war echt nicht ganz normaler. Eben hatten wir doch noch alle so glücklich zusammen gesessen. Und jetzt hatte ich alles kaputt gemacht. Niedergeschlagen ging ich in die Küche und schaute in den Ofen. Die Plätzchen hatten bereits eine goldgelbe Färbung angenommen. Bald würden sie fertig sein.
Ein Maunzen lenkte meine Aufmerksamkeit auf Minze, der plötzlich neben mir aufgetaucht war. Ich streckte die Hand aus und kraulte ihn hinter den Ohren. Er streckte seinen kleinen Kopf in meine Hand und schloss die Augen. Sein leises Schnurren und der warme Duft von den Plätzchen beruhigten mich ein wenig. Was Katzen und Gebäck doch immer wieder ausmachen konnten.
"Wie oft kommst du eigentlich her?"
Ich hatte nicht mit Ben gerechnet und zuckte leicht zusammen. Ich drehte mich leicht zur Seite und schaue zu ihm. Er stand, die arme vor der Brust verschränkt, im Türrahmen und schaute mich mit seinen karamellfarbenen Augen aufmerksam an. Seine braunen Haare hingen ihm leicht in der Stirn. Er sah schon verdammt gut aus. Wie lange er dort wohl schon stand? Ich hatte ihn echt nicht kommen hören, was bei seiner Größe echt beachtlich war. "So zwei, bis drei mal die Woche. Ich wohne ja nur ein paar Blocks entfernt, da dauert das nicht so lange."
Ben stieß sich vom Türrahmen und kam auf mich zu. "Danke. Sie braucht die Gesellschaft. Ich schaffe es leider neben der Uni nicht so oft vorbeizuschauen."
"Wie geht es deiner Großmutter?"
Der Junge kam neben mir zum Stehen und umklammerte die Spüle. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor. "Besser. Sie muss sich einfach ein bisschen ausruhen, dann wird das wieder."
Mir lagen so viel Fragen auf der Zunge, aber man konnte ihm ansehen, dass er nicht darüber sprechen wollte. Eine Frage musste ich aber einfach stellen. "Wer ist Muriel?"
Bens Kiefer spannte sich an und er starrte für mehrere Sekunden stumm in die Spüle. Als ich schon keine Antwort mehr erwartete räusperte er sich. "Meine Mum."
Ich wartete ob noch etwas kam, aber er schien nichts mehr sagen zu wollen. Ich schluckte, irgendwas schreckliches musste mit seiner Mutter passiert sein. "Magst du mir sagen, warum sie mich mit ihr verwechselt hat?"
"Ich weiß es nicht. Du hast keine Ähnlichkeit mit ihr."
Grübelnd tippte ich mir an die Lippen. So kamen wir nicht weiter. Wenn ich wissen wollte, was los war, brauchte ich ein paar Fakten. Ich überlegte hin und her, aber es gab keine Formulierung um die Frage abzumildern. "Was ist mit ihr passiert?"
"Sie ist abgehauen. Als ich noch klein war. Ich hab sie seit verdammten elf Jahren nicht mehr gesehen. Kurz nach meinem neunten Geburtstag ist sie verschwunden."
Bestürzt legte ich eine Hand auf seinen Arm. Ich konnte nicht verstehen, wieso sie ihn hätte allein lassen sollen. Besonders nicht, da es sich anscheinend um Ms Fultons Tochter handelte. "Das tut mir leid." Ich wusste wie hohl meine Worte klangen, aber es kam mir richtig vor sie zu sagen.
"Großmutter meint immer, dass sie mich nicht verlassen wollte. Dass sie keine Macht darüber gehabt hätte, dass sie mich nur beschützen wollte. Aber man hat immer eine Wahl. Und sie hat sich gegen mich entschieden!" Mit einer Hand fuhr er sich übers Gesicht. Egal wie sehr es probierte zu verstecken, man sah den Verlust seiner Mutter in seinem Gesicht. Ein Schmerz, der sich dort vor Jahren eingemeißelt hatte. Die Trauer eines kleinen Jungen, der ohne seine Mutter hatte aufwachsen müssen.
Ich konnte das nicht mit ansehen. Ich mochte es nicht, wenn Menschen die ich mochte traurig sind. Ich mochte generell keine traurigen Menschen. Ich umarmte Ben von hinten. Mein Kopf lag an seinem Rücken, während meine Arme ihn fest umschlossen. "Es tut mir so leid."
Immer noch hielt er das Spülbecken umklammert, aber ich konnte spüren, wie seine Hände sich langsam lockerten.
Ich weiß nicht genau, wie lange wir so standen, aber als der Wecker für die Kekse klingelte fuhren wir auseinander. "Ähm... Ich hol dann mal das Blech besser heraus." Ben klang etwas unsicher.
Ich traute mich nicht ihn anzuschauen. "Ja." Schüchtern wich ich nach hinten und stolperte prompt über den Kater. Gerade so konnte ich mich noch an Bens Schulter festklammern. Lachend fing er mich auf. "Nicht so stürmisch, so einschüchternd bin ich nun auch wieder nicht."
Ich stieg in sein Lachen mit ein. Die unangenehme Stimmung von vor ein paar Sekunden war gebrochen. "Na dann rette mal die Plätzchen vor dem Verbrennen." Grinsend überreichte ich ihm die Handschuhe.
Spielerisch verbeugte er sich vor mir und holte dann die Plätzchen aus dem Ofen.
Ich schnappte mir eins und lief damit ins Wohnzimmer. Ich pustete leicht auf das heiße Gebäckstück und steckte es mir dann in den Mund. Mein Blick glitt zu dem alten Bücherregal mit der Schneekugel. So unschuldig wie sie dort stand, würde man nie vermuten, dass sich ein Geheimnis um sie ranken würde. Ich weiß nicht genau woher ich den Willen nahm, aber ich wollte ihr Geheimnis lüften. Ich wollte das Rätsel dieser Schneekugel lösen.
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Jingle The Bell
FantasyDiese Weihnachten läuft alles etwas anders als geplant. Als der sympathische Ben Mary vor einer Gruppe Jugendlicher aus ihrer Schule rettet, fügt sich eins zum Anderen. Gemeinsam finden sie eine alte Schneekugel, die wie ein böses Omen über ihnen z...