Nein, ich konnte nicht zu ihm. Das wäre zu gefährlich. Er war der Sohn der Königin, er hatte mich belogen. Man konnte ihm nicht trauen.
Vielleicht war er der Einzige, der wusste wie ich hier weg kam, aber bevor ich ihm den Gefallen tun würde, würde ich lieber für immer hierbleiben.
Ich setzte mein bestes Pokerface auf und drehte mich zu Nic um. Er machte sich schon genug Sorgen, da sollte er sich nicht auch noch Gedanken um mich machen müssen. Ich nickte ihm kurz zu, dass alles in Ordnung sei und lauschte dem lieblichen Klimpern der Glöckchen.
Das Ganze hatte etwas von dem Rattenfänger von Hameln. Der Ton war so rein, so lieblich, dass man augenblicklich davon angezogen wurde. Man wollte die Quelle ausmachen und ihr folgen, so lange es möglich war. Bens Anblick hatte jedoch den Zauber gebrochen.
Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Alles war so verrückt. Die einzige Person, die mir vielleicht helfen konnte, war mit eine der wenigen, die nicht auf meiner Seite stehen sollten. Es war alles so verzwickt und vertrackt. Fast wünschte ich mir Celine und ihre Gruppe im Austausch gegen dieses ganze Desaster hier.
Nic blickte mich nur stumm an und legte die Stirn in Falten. Es schien, als würde in seinem Inneren das gleiche Chaos ausbrechen, wie in meinem.
Oh verdammt! Ich hatte vergessen, dass er doch Gefühle erspüren konnte, wieso hatte ich daran nicht gedacht. Jedes Pokerface der Welt würde mir nichts bringen. Er konnte einfach hindurchschauen. Er musste meine widerstreitenden Gefühle erspürt haben.
Ich musste ihn später unbedingt darauf ansprechen. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit meine Gefühle vor ihm zu verbergen.
Das Klingeln wurde immer leiser.
Ben entfernte sich von uns.
Er ging ohne zu wissen, wie nah wir uns gewesen waren.
Vielleicht würden wir uns nie wieder sehen.
So viele Fragen und ich hatte kaum Antworten. Irgendwas musste ich an meiner Taktik ändern und das besser früher, als später.
Ich wartete noch bis die Glocken ganz verstummt waren, erst dann traute ich mich etwas zu sagen. Obwohl ich mir sicher war, dass niemand mehr da war und auch Nic sich sichtlich entspannte, konnte ich ihm meine Frage nur im Flüsterton stellen. "Kannst du wirklich meine Gefühle erspüren?"
Ein Glitzern breitete sich in Nics Augen aus. Plötzlich fing er leise an zu lachen. "Ich dachte jetzt kommt irgendwas von wegen: 'Weißt du wo wir sind?', oder 'Was war das gerade?', oder sonst was. Aber du fragst, ob ich deine Gefühle spüren kann." Glucksend ließ er sich in den Schnee sinken.
Irgendwie hatte er schon recht. Wir waren gerade einem Ungeheuer entkommen, hatten uns durch einen Schneesturm gekämpft und uns vor dem Königssohn versteckt und ich fragte, ob er meine Gefühle erspüren konnte. Lachend ließ ich mich neben ihn fallen.
Wir lachten, bis uns die Bäuche wehtaten. Lachen war schon eine super Methode zur Stressbewältigung. Mit ging es gleich viel besser und ich konnte einen Teil meiner negativen Gedanken zur Seite schieben.
Irgendwann hörte wir auf zu lachen. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Dieser Schnee war aber anders. Er war nicht so dick, so dicht. Ein Schneesturm würde daraus bestimmt nicht werden.
Jeder hing seinen Gedanken nach. Ich wollte Nic nicht stören. Ich würde warten, bis er mir von sich aus erzählen würde, was es mit seinen Fähigkeiten auf sich hatte.
"Normalerweise kann ich Gefühle von anderen erspüren-" Er brach ab und schien nachzudenken.
Das 'normalerweise' hing in der Luft. Was meinte er wohl damit?
"Wenn ich auf jemanden zugehe und ihm in die Augen schaue, dann kann ich seine Gefühle erspüren. Bei den meisten ist es nur eine Andeutung. Ganz leicht, wie ein Windhauch streifen mich die Emotionen und ich kann mir ein ungefähres Bild von der Gefühlslage der Person ausmachen. Je nachdem wie eng die Bindung zu einer Person ist, kann ich mehr oder weniger fühlen. Wenn du die Stimmung einer Person kennst, ist es fast wie Gedankenlesen. Du kannst dir denken, was du sagen darfst oder nicht und was du zu tun hast."
Aber wenn das so war, dann dürfte Nic gar keine Emotionen von mir empfangen dürfen. Oder besser gesagt nur einen kleinen Teil. Eigentlich.
"Bei dir ist das anders. Ich kann nicht sagen wieso."
"Vielleicht weil ich nicht aus eurer Welt komme?" Das war mir zumindest die plausibelste Erklärung.
"Aber - Wieso spür ich dann deine Gefühle, als wären es meine?" Er setzte sich auf und schaute auf mich herunter.
Verstört setzte ich mich auch auf und schaute ihn ebenfalls an. "Du kannst was?"
"Ich spüre deine Gefühle. Anfangs dachte ich mir noch, dass ich einfach nur verwirrt war von deinen neuen Eindrücken und allem was dir neues widerfährt, aber irgendwann hab ich gemerkt, dass es sich gar nicht um meine Gefühle handeln kann. Trotzdem konnte ich sie von meinen eigenen abgrenzen, das konnte ich lange nicht mehr."
"Wie hast du es herausgefunden?"
"Du musst wissen, durch die auf mich eintreffenden Emotionen, sind meine eigenen in den letzten Jahren verkümmert. Ich dachte, dass ich kaum noch welche habe. Seit Yuki dich auf diesem Hügel gefunden hat und wir dich mit uns genommen haben, konnte ich erstmals wieder sowas wie meine eigenen Gefühle spüren. Die Veränderung muss an dir liegen Mary. Das einzige was ich noch wirklich spüren kann, sind deine und meine Gefühle. Die der anderen sind in den Hintergrund getreten. Deshalb war ich auch nur vorhin rechtzeitig da, deswegen konnten wir dich überhaupt retten. Ich konnte deine Angst über hunderte von Metern spüren."
Ich schluckte. War das jetzt gut oder schlecht?
"Sowas ist mir in den ganzen zehn Jahren nicht einmal passiert. Du veränderst alles Mary. Du veränderst uns, ohne etwas zu tun."
Er hatte recht, ich tat gar nichts. Und trotzdem änderte sich alles. Wie war das nur möglich? "Aber wie kann das sein?"
"Ich weiß es nicht, aber ich glaube die Prophezeiungen stimmen. Du bist unsere Retterin Mary, du kannst uns alle befreien."
"Aber wie soll ich das denn anstellen? Ich kann doch gar nichts. Ich hab keine Fähigkeiten wie ihr. Ich bin normal. Alles an mir ist normal. Es kann sich doch auch um einen Zufall handeln, dass diese Fähigkeit bei dir zurückgeht. Vielleicht liegt das gar nicht an mir und ihr macht euch umsonst Hoffnungen." Es tat gut meine Ängste endlich mit jemandem teilen zu können, auch wenn ich ihn damit enttäuschen könnte.
"Mary, fang an, an dich zu glauben. Du bist was Besonderes. Erst seit du da bist treten die Veränderungen auf. Glaub mir, das hier alles liegt an dir. Du bewirkst das allein mit deiner Anwesenheit."
"Ich kann euch aber nicht helfen."
"Doch du kannst. Du wirst eine Lösung finden, so wie es die Prophezeiungen sagen. Wir alle, wir helfen dir. Wir werden dich in allem unterstützen was du machst. Egal was du vorhast. Aber bitte, bitte probier es."
Er hatte meine Hände in seine genommen. Wir saßen zueinander zugedreht und schauten uns in die Augen. Es war ein stummes Kräfte messen. Konnte ich ihm die Stirn bieten, oder würde er es schaffen mich umzustimmen?
"Wie gesagt, ich spüre deine Gefühle besser, als meine. Ich weiß, was dir durch den Kopf gehen muss. Aber ich bin sicher, dass du das kannst. Du kannst alles, wenn du nur anfängst an dich zu glauben."
So wie er das sagte, hörte es sich an, als würde ich es wirklich schaffen können. Als hätte ich die Möglichkeit Midwinster aus dieser Schreckensherrschaft zu befreien.
"Du kannst das Mary." Er lehnte sich immer weiter nach vorne. "Ich weiß, dass du das kannst." Die letzten Worte murmelte er gegen meine Lippen. "Ich glaube an dich." Er überbrückte die letzten Millimeter und drückte seine warmen Lippen auf meine.
DU LIEST GERADE
Jingle The Bell
FantasyDiese Weihnachten läuft alles etwas anders als geplant. Als der sympathische Ben Mary vor einer Gruppe Jugendlicher aus ihrer Schule rettet, fügt sich eins zum Anderen. Gemeinsam finden sie eine alte Schneekugel, die wie ein böses Omen über ihnen z...