#2 In der Weihnachtsbäckerei...

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"Maryyyy", die Stimme meiner Mutter ließ mich noch vor meinem Wecker aufwachen. Müde drückte ich meinen Kopf in das Kissen. Erst als meine Tür aufschlug, lugte ich unter dem Stück Stoff hervor. "Was gibt's?" Meine Frage klang durch die Daunen abgedämpft nur leise zu meiner Mutter.

Statt einer Antwort bekam ich hochgezogene Rollos und weit geöffnete Fenster. Kalte Luft strömte von draußen in den Raum und ich zog zitternd die Decke fester um mich. "Mum, was ist los?" Genervt schaute ich auf.

Meine Mutter stand mit den Händen in die Hüften gestemmt am Fußende meines Bettes. Ihre braunen Locken flogen ihr um den Kopf, ihre Augen funkelten mich wütend an und es fehlten nur noch die Blitze im Hintergrund, dann wäre sie locker als Rachegöttin durchgegangen. "Wie erklärst du mir die Einkaufstüten in der Küche, junge Dame?"

Verdammt. Ich war gestern so fertig gewesen, dass ich die Tüten ganz vergessen hatte aufzuräumen und Ms Fulton hatte ich auch vergessen. Adrenalin schoss durch meinen Körper und ich war plötzlich hellwach. "Mist!"

"Ja, das drückt es gut aus. Und nicht nur, dass du die Lebensmittel nicht weggeräumt hast, in den Tüten sind Süßigkeiten. Du weißt, wie ich dazu stehe. Also, bevor ich dieses ungesunde Zeug gleich wegschmeiße, erklärst du mir das bitte."

"Das ist nicht von mir, das ist für Ms Fulton. Du weißt doch, dass ich für sie einkaufen gehe."

Die Antwort schien meine Mum zu beruhigen, denn sie nickte nur kurz und verließ mein Zimmer. Im Türrahmen blieb sie noch einmal kurz stehen. "Ich fahr jetzt zur Arbeit, wenn ich später nach Hause komme sind die Einkäufe weggeräumt."

"Ja Mum." Da ich jetzt komplett wach war, konnte ich auch genauso gut aufstehen. Die Frage war nur, ob ich das auch wollte. Ich hatte echt keine Lust in die Schule zu gehen. Ja, vielleicht war das feige, aber ich hatte echt Angst vor einem Treffen mit der Horrorgruppe. Vielleicht blieb ich einfach zu Hause und erzählte meinen Eltern, dass es mir nicht so gut ging.

Mein Blick fiel auf meinen Nachttisch mit den ganzen Büchern. Ich hatte seit langem keine Zeit zum Lesen mehr gehabt. Ich könnte mir einfach frei nehmen. Nur einen Tag. Danach würde ich mich den anderen stellen. Zumindest redete ich mir das ein, aber so lange es half...

Schnell griff ich nach meinem Handy und tippte eine Nachricht an Jimmi, dass ich ich heute nicht kommen würde. Sofort erschien eine Nachricht von ihm: Was los? Bist du krank? Ich überlegte nicht lange, ob ich ihn mit meinen Problemen belästigen sollte und schrieb ihm was gestern vorgefallen war.
Und wieder kam seine Antwort prompt zurück: Diese ***, ich versteh sie einfach nicht. Ist ok, wenn du nicht kommst. Ich schreib für dich mit, ruh dich erstmal aus und denk nicht an diese Idioten.
Lächeln tippte ich ein 'Danke' und legte mein Handy weg.

Dann schnappte ich mir das erstbeste Buch und fing an zu lesen.

***

Ich hatte bereits mehrere Stunde gelesen, als ich mich von meinem Buch lösen konnte. Die Sonne war mittlerweile aufgegangen, aber viel bemerkte man von ihr nicht, da ein dichter Dunst über der Stadt lag und ein leichter Nieselregen eingesetzt hatte. Kein Wetter um rauszugehen. Aber ich musste auch mal aufstehen. Ich hatte den bisherigen Tag nur im Bett verbracht. Die Einkäufe standen immer noch unten rum und ich musste noch zu Ms Fulton, um ihr ihre Sachen zu bringen. Die Arme hatte bestimmt den gestrigen Tag die ganze Zeit vergeblich auf mich gewartet. Langsam plagte mich echt ein schlechtes Gewissen.

Ich schwang die Beine aus dem Bett und suchte mir etwas warmes zum Anziehen heraus. Für den Weg in die Kälte wollte ich gewappnet sein.

Dann lief ich in die Küche runter, aß schnell einen von Mums Biosnacks - die Dinger sind genauso eckelig, wie sie sich anhören - und trennte die Einkäufe. Nachdem ich alles sicher verstaut hatte, packte ich die Lebensmittel für die alte Dame in einen Jutebeutel und machte mich auf den Weg zu ihr.

Ihr Haus lag nur drei Häuserblocks entfernt von unserem, weshalb ich nach einem kurzen Fußmarsch auch schon da war. Von irgendwo erklangen Kirchenglocken. Es musste schon zwölf sein.

Soweit ich wusste müsste Ms Fulton eigentlich zu Hause sein. Ich straffte die Schultern und ging durch das angelehnte Gartentor zur Haustür. Die Klingel erklang im inneren des Hauses und ich hörte mehrere Stühle schaben. Sie war also nicht allein.

Als sich die Haustür endlich öffnete stand die alte Frau in ihrem geblühmten Kleid jedoch alleine im Rahmen. Ich schenkte ihr ein schiefes Grinsen: "Guten Tag Ms Fulton. Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich es gestern nicht mehr geschafft hatte. Ich hatte wirklich vor zu kommen, aber -,"
Die Gute unterbrach mich, als sie mich in eine leichte Umarmung zog. Sie wirkte zerbrechlich und klein. Ich umarmte sie vorsichtig zurück.

"Ich hatte mir solche Sorgen um dich gemacht Kindchen. Als mein Enkel mir erzählt hat was vorgefallen ist, war alles klar. Ich verstehe, dass du nicht gekommen bist. Es ist alles gut. Aber komm erstmal rein. Wenn du magst kannst du mit uns backen. Ich würde mich sehr freuen."

Ein bisschen überrumpelt von ihrem Vortrag, folgte ich ihr ins Innere des Hauses. Der kleine Flur war tapeziert mit abertausenden von Fotos. Landschaften, Personen, Tiere, sie hatte mir mal erzählt, dass sie die Fotos alle selber gemacht hatte und zu jedem hatte sie etwas zu erzählen. Bei ihr gab es immer eine Geschichte zu hören. Das war unter anderem einer der Gründe, warum ich ihr so gerne im Haushalt unter die Arme griff. Die Gute hatte immer ein Ohr für einen offen und erzählte einem genauso gerne etwas.

Artig zog ich meine Schuhe aus und folgte ihr mit den Einkäufen in die Küche. Dort erwartete mich schon Minze, Ms Fultons grau getigerter Kater. Schnurrend strich er mir um die Beine und ich streichelte mit einer Hand über sein samtiges Fell, während ich mich daran machte, die Lebensmittel einzuräumen.

"Warte ich helfe dir.", die raue Jungenstimme hinter mir kam mir bekannt vor. Ich nahm den Honig, den ich gerade mühselig probiert hatte in eins der oberen Regale zu stellen, wieder herunter und drehte mich um. Vor mir stand Ben. Der Ben von gestern. Der goldene-Rüstung-Ritter-Ben.

Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. "Nicht, dass das noch zur Gewohnheit werden muss."

"Aber nicht doch. Ich bin mir sicher, dass du ganz gut alleine auf dich aufpassen kannst." Grinsend nahm er mir das Glas aus der Hand und stellte es in das obere Regal.

"Ach wie schön, ihr versteht euch." Ms Fulton saß auf einem der Küchenstühle, hatte die Hände ineinander verschränkt und nickte lächelnd vor sich hin.

Ein leises Lachen entfuhr mir. Ben stieg mit ein und schon bald lachten wir alle drei.

"So Kinder, jetzt wird aber gebacken. Mary du bleibst doch, oder? Doch, sicher bleibst du." Ms Fulton war ganz in ihrem Element. Schon hatten wir beide Kochschürzen an und jeder eine Aufgabe.

Irgendwann drehte Ben das Radio lautstark auf und wir sangen, oder besser gesagt grölten, die Weihnachtslieder mit. Als die Plätzchen endlich alle sicher im Ofen angekommen waren und der leckere Zimtgeruch durchs Haus zog setzten wir uns erschöpft, aber glücklich, ins Wohnzimmer.

"Jetzt müssen wir noch eine Dreiviertelstunde warten, dann sind die Plätzchen fertig." Begeistert klatschte die alte Dame in die Hände.

Ich stand auf und ging auf eines der Bücherregale zu. Auf manchen Brettern standen keine Bücher, sondern ein paar Dekoartikel. Die Schneekugel in der Mitte des Faches hatte meine Aufmerksamkeit erweckt. Die Standfuß der Kugel war in einem schlichten hellblau gestrichen, in den eine schlichte Winterlandschaft eingeritzt war. Ein kleines Haus, mehrere Bäume und einige Tiere stachen hervor. Genaueres fiel mir aus meiner Position nicht auf, dafür hätte ich sie hervorholen müssen. Im Inneren der Kugel befanden sich zwei gläserne Glocken. Sie hingen zusammengebunden an einem Mistelzweig geknotet und schienen in der Luft zu schweben. Ich konnte keine Befestigung ausmachen, was mich zugegeben ein klein bisschen verwirrte. Statt Schnee gab es kleine Glitzersteine, die so leicht und filigran wie Edelsteine wirkten.

"Sie ist wunderschön." Langsam streckte ich eine Hand danach aus.

"Stopp!" Ms Fultons Aufschrei ließ mich zusammenzucken. "Nicht anfassen. Stopp, nein, nicht anfassen! Nein, du darfst sie nicht berühren. Nein, nein, nein!"


Jingle The BellWo Geschichten leben. Entdecke jetzt