#9 ... in another place

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Wir liefen immer weiter. Das Mädchen rannte immer ein Stück voran und schaute sich in alle Richtungen um. Andauernd stieß sie irgendwelche komischen Rufe aus.
Ihr schien das Laufen nichts auszumachen. Sie war noch nicht mal außer Puste, während ich, wie ein Dampflock hinter ihr her hechelte. Meine pulsierende Hand hielt ich mir an den Bauch gedrückt und probierte, mir nicht zu viel Gedanken über die Wunde zu machen.

Wie lange wir schon unterwegs waren, wusste ich nicht, aber der Wald kam immer näher. Von dem Hügel aus hatte er gar nicht mal so weit entfernt ausgesehen, aber jetzt, da wir unten standen, fühlte es sich wie der längste Weg meines Lebens an.

Aus dem Nichts setzte ein entsetzliches Kreischen ein. Ein Ton der selbst Glas zum springen bringen könnte. Ich presste meine Hände auf die Ohren. Der Schmerz in meinem Finger war nichts gegen den in meinem Kopf. Ich hatte selber angefangen zu schreien, doch der Druck ließ einfach nicht nach. Man hätte meinen Kopf genauso gut in einen Schraubstock stecken können, das Ergebnis wäre das gleiche gewesen.

Ein dumpfes Pochen setzte ein. Wie ein Herzschlag nistete er sich in meine Schläfen ein und wollte einfach nicht verschwinden.
Meine Sicht wurde langsam immer verschwommener.
Dieser Ton nahm mir meine restliche Energie.

Langsam sank ich auf die Knie. Alles lief in Zeitlupe ab. Ich sah, wie das Mädchen auf mich zugerannt kam und mir irgendwas zuschrie.
Hinter ihr tauchten weitere Gestalten auf, doch ich konnte meinen Blick nicht auf einzelne von ihnen fokussieren. Sie waren wie eine dunkle Masse, die auf mich zugeschwappt kam. Wie eine Welle, die mich mit sich reißen würde.

Und schon wieder wurde alles schwarz. Ich fiel kopfüber in den Schnee.

Vielleicht würde ich gleich wieder in dem Wald zu Hause aufwachen.

***

Bitte lass mich wieder in der Holzhütte sein, bitte lass mich wieder in der Holzhütte sein, bitte -

Ich schlug die Augen auf.

Eine Holzhütte sah anders aus.
Sie hatte nicht so viele Stangen und Tücher, oder roch nach nassem Hund. Krutzifix! Wieso konnte nicht einmal etwas so laufen, wie es sollte.

Ächzend setzte ich mich auf. Ich befand mich in einem Zelt.
Die Einrichtung war ziemlich kahl. Neben dem Bett in dem ich saß, gab es nur noch eine Truhe auf der anderen Seite. Dazwischen lagen jede Menge Fälle und Decken.

Das nächste was mir auffiel war meine Hand. Sie steckte in einem blütenweißen Verband und schmerzte nur noch leicht. Ich drehte sie in alle Richtungen. Langsam bewegte ich meine Finger. Als alle wie gewohnt funktionierten, atmete ich erleichtert auf. Immerhin hatte mir dieser Hase nicht den Finger abgebissen!

Der Hase - das Mädchen - die Flucht - der schreckliche Ton - die dunkle Masse

Die Erinnerungen stürzten auf mich ein. Ich musste gucken, dass ich hier wegkam. Aber zuerst musste ich die Kugel wiederfinden... In welcher Weise sie mit diesem Ort in Verbindung stand, konnte ich nicht sagen, aber selbst mir war mittlerweile klar, dass ich ohne sie hier nicht wegkam.

Das Mädchen hatte sie zuletzt gehabt. Das hieß, ich musste sie finden. Wahrscheinlich hatten die Unbekannten sie auch mitgenommen, also musste sie hier ganz in der Nähe sein. An die Gefahr in der ich vermutlich steckte verschwendete ich keinen Gedanken.

Leise stand ich auf. Am Fußende des Bettes lag ein hellblauer Mantel. Ich hob ihn hoch und hielt ihn vor mich. Ziemlich dick sah er nicht aus, aber ein wenig schützen würde er mich bestimmt. Außer meinem grauen Strickpulli trug ich nämlich nicht wirklich warme Anziehsachen, da nahm ich doch das was ich fand. Schnell schlüpfte ich in die Ärmel und knöpfte die durchsichtigen Glasknöpfe zu. Der Mantel reichte bis knapp über meine Knie. Sofort wurde mir ein wenig wärmer.

Unter den Stoffen schien ein mildes Licht herein. Wahrscheinlich war es ziemlich früh am Morgen. Ich hoffte man hatte keine Wachen vor dem Zelt positioniert. Sowas sah man ja immer in den ganzen Filmen, aber die Helden schafften es trotzdem immer an ihnen vorbei. Hoffentlich gehörte ich dieses mal zu den Helden.

Stockend ging ich auf den Zelteingang zu und zog leicht an der Plane. Helles Licht fiel herein und ich kniff geblendet die Augen zusammen. Wieso war es nur überall so verdammt hell?

Als sich meine Augen endlich an das einfallende Licht gewöhnt hatten, konnte ich den Platz, oder besser gesagt die Lichtung, vor mir sehen. Ich hatte recht behalten. Es war noch sehr früh am morgen. Auf der Lichtung breiteten sich einige Zelte aus. Alles war ruhig. Anscheinend schliefen noch alle. Und ich hatte keine Wachen. Noch ein Bonus.

So schnell und leise, wie es mir eben möglich war, strich ich an der Zeltwand entlang und hastete zu einem der Bäume, die an meinen Schlafplatz angrenzten. Als ich den ersten erreichte, lehnte ich mich erstmal an und atmete einmal tief ein und aus. Jetzt musste ich mir nur noch überlegen, wie ich das Mädchen fand. Dann würde ich schon noch herausfinden, was ich machen musste, um zu Ben zurückzukehren.

Einen letzten tiefen Atemzug nehmend drehte ich mich um. Die Zelte lagen noch immer genauso still zwischen den Bäumen wie zuvor. In den letzten paar Sekunden hatte sich nichts geändert. Meine Abwesenheit war noch nicht aufgefallen. Das musste ich ausnutzen, solange ich konnte.

Im Schatten der Bäume lief ich los. Ich hielt einen gewissen Abstand zu dem Lager und umrundete die Fläche einmal ganz. Mir fiel nichts verdächtiges auf. Nichts woran ich auch nur im entferntesten erkennen konnte, wo sich das Mädchen befand. Wenn ich nicht in jedes Zelt einzelnd schauen wollte, musste ich mir was überlegen.

Vorsichtig schlich ich weiter in den Wald hinein. Ich würde erstmal abwarten und schauen was passierte. Wenn ich irgendeinen Baum fand auf den ich klettern konnte, konnte ich mir einen Überblick verschaffen und vielleicht erkennen, wo die Fremde untergebracht war.

Suchend schaute ich mich um. Keine zehn Meter von mir entfernt stand ein Baum, der ziemlich gut zum Klettern aussah. Im Näherkommen wurde ich mir meiner Wahl immer sicherer. Der Baum war perfekt. Von dort würde ich eine gute Aussicht haben.

Ich suchte nach einem guten Ausgangspunkt und zog mich auf den untersten Ast.

"Vorsicht!"

Ich erstarrte. Hatte ich mir die Stimme eingebildet? Langsam drehte ich mich um. So verdreht wie ich an diesem Baum hing war mein Sichtfeld ziemlich eingeschränkt, doch der Junge unter mir fiel sofort auf.

Eisblaue Augen in einem markanten Gesicht starrten zu mir hinauf. Schwarze Strähnen fielen ihm in die Stirn. Seine Hand ruhte auf dem Griff eines Schwertes.

"Pass auf, der nächste Ast wird dich nicht halten."

Verwirrt schaute ich ihn an. Warum hielt er mich nicht auf? Gehörte er nicht zu dem Lager? Ich hätte mir denken können, dass sie Wachen aufgestellt hatten.

Und woher wusste er überhaupt wohin ich als nächstes greifen würde und dass der Ast morsch war?
Ich griff nach dem nächsten Stück Holz und zog leicht daran. Ein lautes Knacken war zu hören, dann brach der Ast.
Ich fiel zurück und hing nur noch an einem Arm an dem Baum. Mein linker Fuß baumelte in der Luft.

"Ich habs dir doch gesagt."

"Woher hätte ich wissen sollen, dass du nicht lügst. Du hättest mich wieder runterlocken wollen können." Woher ich den Mut nahm so mit ihm zu reden, wusste ich nicht.

"Das kann ich nicht verantworten."

"Ja klar."

"Nein Mary, du bedeutest uns mehr, als du dir jemals vorstellen kannst."

Jingle The BellWo Geschichten leben. Entdecke jetzt