Kapitel 10: Endlos viele Farbtöne

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"Vielleicht", ist das wohl Angels Lieblingswort, welches er sehr oft benutzt.

"Ach, Angel ...", seufze ich und starre an seine Zimmerdecke. "Du hast eben gesagt, du wüsstest wie Farben aussehen ... Warst du nicht schon immer blind?"

"Was geht's dich an?"

"Ich frage ja nur."

Der hellhaarige Junge mit den Augen wie aus blinden Eis erhebt sich von seinem Bett und holt seinen Loomingkasten aus dem Schrank, welcher mir aufgefallen war. "Das hier mache ich auch gerne", kommt der Eisläufer auf das vorherige Thema zu Sprechen und setzt sich mit Abstand neben mich auf das Bett. Er öffnet den Kasten und darin ist noch mehr, als ich erwartet hätte. Endlos viele Farbtöne, gestreift und bunt. Eine hochwertige Metallnadel und ein komisches, blaues Brett ist auch ein Teil seines kleinen Plastikkoffers. "Weißt du, wie man das macht?"

"Nein." Ich habe als 24-Jähriger so Mädchenkram natürlich noch nie berührt, weil ich Gummiarmbänder nicht trage und eigentlich davon ausgegangen bin, dass nur kleine Weiber im pubertierenden Alter einige Wochen damit spielen.  "Okay, ich zeige dir etwas einfaches. Lieblingsfarbe?"

"Keine Ahnung, rot?"

Angel greift in ein Kästchen mit rot sortierten Bändern und spannt es achtförmig über Zeige- und Mittelfinger, ehe er noch weitere darüber spannt und die unteren einfach darüber zieht. Ich verstehe nicht, was das soll, doch umso weiter er den letzten Vorgang wiederholt, umso eher erkennt man, was daraus wird. Ich schätze, Angel hat alles auswendig gelernt, wo hier was liegt. Als er fertig ist und eine kleine Schlange aus Gummibändern geformt hat, nimmt er einen durchsichtigen Plastikclip und hängt diesen an beide Seiten des Bandes, ehe er es um mein Handgelenk legt. Es liegt nah an mir an, sonst ist es okay geworden. "Nice", sage ich, aber es sind wirklich die selben Bändchen wie die der kleinen Mädchen. "Ich mache aber nicht so gerne Bänder", gibt Angel schließlich zu und holt unter seinen Bett eine Art Schuhkarton hervor, welche er einfach auf seine vielen bunten Bänder stellt. "Ich mache lieber so etwas."

Er nimmt den Deckel vom Karton ab und zum Vorschein kommen viele, viele kleine und bunte Tierfiguren. Pandabären aus Gummi oder gar ein ziemlich großer Fuchs, alle mit Watte gefüllt. Ich wusste gar nicht, dass man so etwas damit machen kann! Das macht das ganze schon um einiges cooler, auch wenn es sicherlich so eine Art Hobby wie Nähen oder Häkeln ist, schätze ich. "Wie machst du die?" Er wird schon wissen, wie er damit umzugehen hat. "Ich mache sie mit diesem Brett oder einfach per Hand, wie diesen Fuchs ... Ich zähle alles ab und fühle mit den Fingern in welches Loch ich die Häkelnadel stecken muss ... Für jede dieser Figuren habe ich sehr lange gebraucht, ich mache das aber auch schon seit Jahren."

Wahrscheinlich ist das der längste Satz, den er jemals zu mir gesagt hat.

"Und wie lange brauchst du genau?"

"Für diesen kleinen Panda habe ich am Anfang um die sechs Stunden gebraucht, heute nur noch zwei ungefähr", zuckt er die Schultern und steckt den Karton zurück unter sein Bett. "Viel mehr als das alles hier mache ich nicht ..."

"Haha, also meine Ho- ..."

"Die interessieren mich nicht wirklich", ist er total direkt und ehrlich zu mir, als er sich im Schneidersitz an die Wand hinter sich lehnt. "Warum bist du eigentlich hier? Das mit den Schlittschuhen war zwar cool, aber so etwas macht man nicht als Fremder."

"Warum? Vielleicht finde ich es einfach Hammer, dass man als Blinder so gut Schlittschuh laufen kann und möchte mich deswegen mit dir anfreunden?"

"Das glaube ich dir nicht ..."

Ich verstumme und unterdrücke ein Seufzen. "Ich weiß jetzt ehrlich gesagt nicht, was ich dir antworten soll."

"Deswegen kannst du ja jetzt auch gehen."

"Okay ..." Aber ganz so leicht lasse ich mich auch wieder nicht abwimmeln. "Angel ... Du hast Oma aber versprochen, etwas mit mir zu unternehmen und wenn es soweit ist, werde ich dafür sorgen, dass du mal wirklich herrlich lachst, denn du bist immer so ernst."

"Mhm. Tschüss, Yoshua."

Ich schätze, das Ömchen hat ihm meinen ganzen Namen vor ein paar Tagen gesagt ... Denn er kannte mich eigentlich nur unter Yoshi. "Bis demnächst."

Auch, wenn er es noch nicht will, werde ich ihn schon herumkriegen.


"Oma, ich gehe dann mal für heute", lächle ich die alte Dame auf dem Sofa vor dem Kamin im Wohnzimmer an . Sofort steht sie auf und nimmt mich wie einen Sohn in die Arme. "Okay, Yoshi ... Komm gut heim und danke, dass du dich so um Angel kümmerst." Sie ist total lieb "Keine Ursache! Auf Wiedersehen!"

"Auf Wiedersehen."


Heute rufe ich Ray nicht an, lebe meinen restlichen Alltag und nach der Universität am nächsten Tag komme ich Angel direkt Zuhause besuchen. Er sollte eigentlich da sein, denn er ist immer bei der alten Dame, soweit ich weiß und morgens ist er Laufen. Das Ömchen öffnet mir und ihre alten, glasigen Augen sehen mir freudig entgegen. "Oh, Yoshua"; freut sie sich über mein Gesicht in der Tür. "Halo, ich wollte Angel heute ein wenig mitnehmen"; lächle ich der Frau entgegen und sie nickt. "Wie schön! Willst du vorher noch etwas warmes mit uns trinken? Dir muss sicherlich kalt sein!" Natürlich bejahe ich und folge ihr in das Innere, wo ich meine verschneite Jacke auf einen der Haken aufhänge, statt sie über einen Stuhl zu legen. "Angel, kommst du bitte und machst etwas schönes für uns drei?", flötet sie zur Coach, wo sich der Junge, der dort gedöst hat aufsetzt und wortlos in die Küche verschwindet. "Manchmal ist er offener, aber die meiste Zeit ist er doch schon ziemlich verschlossen", seufze ich, als das Ömchen und wir uns an den schönen Tisch setzen, der aus einen Familienfilm um die Weihnachtszeit entspringen könnte. "Wohin möchtest du Angel denn mitnehmen?"

"Ach, ich weiß noch nicht ... Vielleicht gehen wir einfach mal in die Stadt, dort gibt es momentan einen ziemlich großen Weihnachtsmarkt."

"Das ist schön! Dann vergesst bitte nicht seinen Blindenstock und das es rutschig auf den Straßen ist", sieht sie mich mit einem besorgten Blick an, doch ich sage, dass sie sich keine Sorgen machen müsste.

Angel kotm wie letztes mal mit drei Tassen zu uns und gibt mir dieses mal erneut eine mit Kakao, für die Oma einen Kaffee und für sich selbst ebenfalls eine heiße Schokolade.

"Weihnachtsmarkt also? ...", flüstert der Eiskunstläufer, der unser Gespräch wohl mit angehört hat.

"Genau, das wird bestimmt witzig!"

"Ich glaube nicht ..."






Hold My Ice Skates (BoyxBoy, Yaoi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt