Kapitel 19: Eisige Heimfahrt

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Die Gespräche der vielen Menschen werden kurz vor Verkündung der Ergebnisse wie zu einem homogenen Geräusch, von welchen man kein einziges Wort mehr verstehen kann.
Ich nehme die Hand der älteren Dame neben mir, um tröstend mit dem Daumen über ihren faltigen Rücken zu streicheln, als sie so traurig drein guckt. Es wird ruhig, als die Ergebnisse verkündet werden und irgendein Name von wem wird aufgerufen, der hier gelaufen ist. Auch Platz 9. ist nicht Angel und ich seufze enttäuscht. Er war wirklich gut gefahren! Nur weil er einen kleinen Unfall hatte! Während ich mich darüber aufrege, sehe ich wie die aufgerufenen Eiskunstläufer wieder von der Fläche schlittern und ich wende bereits meinen Blick ab und will schon mal gehen, doch dann höre ich es. Angels Namen wird laut genannt und ich blicke zurück auf die Eisbahn, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht verhört habe.

Tatsächlich ist Angel derjenige, der auf die Bahn kommt und in das Publikum winken darf. 8 Platz ... Er hat den 8. Platz gemacht, obwohl er gefallen ist. Ich weiß zwar nicht, nach welchen Kriterien die hier genau bewerten, aber das ist mir auch egal ... Landesweit unter den ersten Zehn zu sein war immer noch besser als einer der letzten. Ich lächle Oma zu und ziehe sie aus dem Publikum. Wer Landesmeister wird interessiert mich nicht! Nur wegen Angel bin ich hier und wir warten vor den Umkleidekabinen auf ihn. "Achter Platz, geht doch voll, oder?", lächle ich das Ömchen an, die sich auch zu freuen scheint. "Angel wollte unbedingt unter die ersten drei", seufzte sie aber schließlich. "Ich wette, ohne diesen Sturz hätte er es geschafft ... Angel hätte es für die Zukunft benötigt. Nur die ersten fünf werden dort angenommen, wo er hin möchte."
"Scheint ja ein ganz schön anspruchsvoller Laden zu sein ... Aber vielleicht machen sie ja eine Ausnahme." Angel war schließlich auch ein Ausnahmetalent.
"Das ist leider sehr unwahrscheinlich", antwortete sie mir. "Vielleicht nächstes Jahr ..."
Wortlos nicke ich und schweige, als endlich die ersten professionellen Eiskunstläufer die Kabine verlassen. Ein paar Mädchen weinen, andere sind wütend und wiederrum andere freuen sich auch mit Niederlage einfach darüber, dass sie dabei sein durften. Alle, die unter die ersten zehn gekommen sind, werden von ihren Familien in die Arme geschlossen, die ebenfalls am selben Ort warten wie wir. Lachende Gesichter, die einfach glücklich sind.
Irgendwie fände ich es schön, mich auch über etwas so freuen zu können und bei irgendwelchen Eiskunsrwettbewerben einen guten Platz zu bekommen, so wie als kleiner Junge. Mein Interesse heute ist leider gesunken.

Endlich ist es soweit und Angel tastet sich mit seinem Blindenstock und dem Koffer mit den Schlittschuhen in der Hand aus der Tüe heraus. So glücklich wie zu dem Zeitpunkt, zu dem er dem Publikum gewinkt hatte, sieht er allerdings nicht aus.
"Hey", begrüße ich ihn und nehme Angel kurz in den Arm. "Du hast echt gut ausgesehen." Ersteinmal mit einem Kompliment überschütten.
"Ja ... Klar", ist Angel zwar distanziert, aber er lächelt dennoch. "Hast du dir weh getan?", will das Ömchen wissen und hebt Angels Kinn an, als sie sein Gesicht auf blaue Flecken kontrolliert. "Natürlich habe ich mir weh getan", seufzt er als Antwort. "Können wir bitte gehen?"
Bin ich hier der einzige, der sich freut?

"Findest du deinen Platz nicht gut?", frage ich Angel, als wir uns auf den Weg zum Wagen machen. "Doch, klar! Aber lieber hätte ich mindestens den Fünften gehabt ... Dann wäre es weiter gegangen ... Stattdessen war alles irgendwie umsonst", spricht er von seinem Training. "Hey ... Schau doch nicht so. Nächstes Jahr ist auch ein Jahr!"
"Nächstes Jahr werde ich aber nicht besser sehen können, als dieses Jahr!"
Ich schweige. Stimmt. Er wird nie wieder in diesen Leben sehen können. Dennoch ziert Angels Gesicht ein sanftes Lächeln, als er sich in den Wagen setzt. "Danke", flüstert er mir zu, als er sich nach vorne zum Fahrersitz beugt. "Nächstes Jahr ist auch ein Jahr", wiederholt er schließlich und lehnt sich in den Sitz.
"Der Achte ist auch nicht schlecht, oder, Angel?"
"Ist er nicht ... Ich freue mich ja auch irgendwie, aber gleichzeitig bin ich eben enttäuscht. Vielleicht habe ich auch einfach zu große Ansprüche an mich selbst ..." Als Blinder landesweit den Achten Platz zu machen ... Ich würde losweinen vor Freude. Er macht einen Sport so viel besser als viele, viele andere. "Achter ist wie gesagt auch gut!" Er bekommt auch Preisgeld und alles. "Aber nächstes Jahr will ich auf jeden Fall unter die ersten Fünf." Irgendwie freut es mich, dass er nicht aufgibt, obwohl er sich seiner eigenen wohl nicht gerecht werden konnte.

Ich weiß nicht, ob Angel sich nun glücklich schätzt oder nicht. Klar, sein Ziel hat er nicht erreichen können, aber das Ziel war wirklich weit hoch angesetzt und er hätte es beinahe geschafft. Frustiert wirkt weder frustiert, noch sehr glücklich. "Wie fühlst du dich?", frage ich also, als ich den Motor starte und beginne, die eisige Heimfahrt anzutreten.
"Motiviert", ist die Antwort. "Motiviert?"
"Nächstes Jahr komme ich unter die ersten Fünf."
"Und wenn du es wieder nicht schaffst?"
"Dann das Jahr darauf."
Im Rückspiegel kann ich sein Lächeln sehen und den Gesichtsausdruck, der endlich zufrieden wirkt.
Also hat es sich doch noch gelohnt.

Angel ist eingeschlafen, bevor wir bei ihm Zuhause ankommen konnten. Es war bereits stockdunkel und wir alle müde. "Gut, dann gehe ich auch mal nach Hause", sage ich zum Ömchen, als ich aussteige und Angel über die Wange streiche, um ihn zu wecken. "Danke, dass du gefahren bist", antwortet mir das Ömchen lieb und der schweigsame Junge erhob sich müde, um auszusteigen. Ich begleite die beiden wie sonst die Treppe hinauf und als das Licht im Vorhof angeht, hört man sofort, wie sich die Tür der Kellerwohnung öffnet und Angels Vater mit einem ernsten Gesicht zu uns stößt.
"Wir müssen uns unterhalten, junger Mann!"

Hold My Ice Skates (BoyxBoy, Yaoi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt