Nach dieser Nacht, in der er Lydia nie allein lassen wollte, wurde sein Verhalten immer schlimmer. Früher war sie so froh, dass er sie immer in Ruhe gelassen hatte, doch nun lässt er sie nicht mehr aus den Augen. Es ist nicht so dass er gemein ist, sie verletzt oder ihr etwas antun will. Tatsächlich ist er sogar nett zu ihr. Schenkt ihr sogar manchmal schwarze Rosen und macht ihr Komplimente. Es hat den Anschein, als ob er sich langsam in sie verlieben würde. Er. Der Mann der ihre Eltern ermordet hat. Der Mann der sie so sehr verletzt hat, dass sie nun nicht mehr gehen kann, dass sie fast ihren Verstand verloren hat.
Während er immer netter zu ihr wird und Gefühle für sie entwickelt, verabscheut sie ihn immer mehr. Sicher findet sie es nett, dass er sie sogar mal mit nach draußen genommen hat. Am Tag. Sie saß im Garten und beobachtete den Wolkenverhangenen Himmel, während er neben ihr saß und ihre "Hand" hielt. Sie fand ihn mehr als nur widerlich. Er hat das Konzept eines Menschen nicht verstanden. Man verliebt sich nicht in seinen Peiniger, es sei denn man erkrankt am Stockholm Syndrom. Doch diese Sorgen macht sie sich nicht. Denn da ist zu viel Hass um irgendetwas nettes ihm gegenüber zu entwickeln.
Und deshalb steht ihr Entschluss fest. Sie wird fliehen. Jedes mal, wenn er nicht da war, hat sie versucht zu gehen. Es schmerzt zu gehen. Ihre Füße fangen an zu bluten. Ihre Beine zittern und sie wird fast ohnmächtig. Doch sie hat gelernt mit den Schmerzen zu leben. Sie kann nun gehen. Nicht schnell und nicht weit, doch es geht. Sie riecht auch nicht mehr nach Mensch. Sie wird einer von ihnen.
Und heute am Tag ist es soweit. Wenn er am wenigsten sehen kann, dann wird sie fliehen.
Sie ist angespannt, liegt in ihrem Zimmer und wartet. Wartet auf den ersten Lichtstrahl, der das Zimmer ausleuchten wird. Es ist gleich soweit. Sie weiß, dass er hier im Zimmer ist. Sie spürt seinen Atem, doch sie kann ihn nicht sehen. Er meidet aber das Sonnenlicht und als sie ihn einmal bat, dass er sie am Tag allein lassen soll, erfüllte er ihr den Wunsch. Sie hatte es so angestellt, als wäre es eine ganz harmlose Frage. Redete irgendetwas von wegen Trauer um ihre Eltern und am Tag braucht sie Zeit für sich. Er glaubte ihr, der Idiot. Er glaubt ihr alles. Er liebt sie. Zumindest glaubt er das. Schattenwesen wissen nicht was es heißt zu lieben. Sie kennen nur dieses Gefühl von den Menschen und versuchen es nachzuahmen. Er weiß nicht was liebe ist. Er ist herzlos.
Als die ersten Lichtstrahlen durch das klitzekleine Fenster dringen, steht er auf, gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und verschwindet so, wie sie ihn auch darum gebeten hat. Sie wartet noch eine Stunde und hofft, dass er sich schlafen gelegt hat. Dann steht sie auf und geht an ihrem bedeckten Spiegel vorbei, den er ihr mal geschenkt hat. Doch sie will sich nicht ansehen. Will nicht wissen, was aus ihr geworden ist. Ihre Beine tun beim gehen höllisch weh und sie muss die Zähne zusammen beißen um nicht vor Schmerzen laut aufzustöhnen. Sie zieht sich eine schwarze Hose und ein dazu passendes Shirt an. Mittlerweile kommt sie gut mit ihren Stummeln als Hände klar. Sie hat dazu gelernt.
Sie packt ihre Sachen, doch dann... übersieht sie ihre Tasche auf dem Boden. Übersieht sie und fällt. Betend hofft sie, dass er sie nicht gehört hat. Doch nicht nur das, denn mit ihr, ist auch das Tuch, das über dem Spiegel hing gefallen. Nun sitzt sie davor, vor ihrem eigenen Abbild und betrachtet sich, als wäre sie eine Fremde. Man kann es ihr nicht übel nehmen. Ihre einst dunkelblonden, glänzenden Haare sind strohig und brüchig. Ihre Augen eingesunken. Dunkle Augenringe umranden ihre Augen und ihre Wangen sind eingefallen. Ihre Haut ist zu einem kranken weiß geworden und überall stehen ihre Knochen hervor. Sie sieht schrecklich aus.
Angewidert und etwas traurig sieht sie weg. Er hat ihr das angetan. Nur er. Er ist an allem Schuld. Und sie hat nicht einmal einen Namen für ihn. Vielleicht hat er gar keinen?
Sie steht langsam auf und geht zur Tür. Keiner da. Sie schlüpft hindurch und duckt sich. Versucht, ihre Schmerzen zu ignorieren. Sie hat nur diese eine Chance.
Bald erreicht sie die Treppe, die sie nach draußen führt. Nur mehr nach unten, durch die Tür und in den Wald, denkt sie sich. Als sie gerade dabei ist hinunter zu gehen, hört sie plötzlich ein lautes Kreischen. Sie duckt sich und hält sich die Ohren zu. Was ist das?! Woher kommt das?!
Augenblicklich gehen alle Türen in der Burg auf und die Bediensteten laufen wirr umher, halten sich aber die Ohren zu. Überall wird hin und her gebrüllt, doch nichts davon ist verständlich. Sie hört nur "Angriff" und "Engel" immer und immer wieder. Da ertönt noch ein Schrei, noch viel lauter als der vorherige. Die wenigen kleinen Fenster zerspringen in tausend Teile und prasseln auf Lydia hinab.
Ich muss hier weg!
Sie steht wieder auf und geht so schnell wie es ihre Beine zulassen auf die Tür zu. Als noch ein Schrei ertönt, der jetzt anscheinend näher ist als vorher, fällt sie auf ihre schmerzenden Knie. Sie fangen an zu bluten, doch gerade spürt sie das nicht. Adrenalin rinnt durch ihre Adern und erfüllen ihren gesamten Körper. Ihre Schmerzen spürt sie nicht mehr sie denkt nur an eines: Flucht.
Während ihre Stumpfen Hände ihre Ohren bedecken, erfüllen immer mehr Schreie die Burg. Sie hören sich an wie die Schreie von tausenden von Sirenen. Wie rufe. Rufe die den Tod suchen. Je lauter die Schreie werden, desto schlechter geht es ihr. Immer mehr und mehr Schreie ertönen. Sie hat das Gefühl, als würden ihre Ohren bald anfangen zu bluten. Und genau das tun sie. Blut rinnt ihr hinab und tropft auf den Boden.
Sie steht wieder auf, will weiter gehen, doch wird von hinten gepackt. Von IHM.
Nein, nein nicht er, bloß nicht er! Ich war doch schon so weit! Bloß nicht er!
Er ruft ihr irgendetwas zu, doch sie scheint ihn nicht zu hören, nicht zu verstehen. Sie starrt ihn einfach nur an und hofft, dass es nicht er ist. Als dann auch noch die Burg zu wackeln beginnt, als würde es ein Erdbeben geben, packt er sie und wirft sie über seine Schulter. Sie fängt an zu weinen. Sie war so nahe dran gewesen.
Er nimmt sie mit durch verschiedene Räume in denen Lydia noch nie war. Die Wände der Burg fangen an zu reißen und hier und da bröckeln einige Steine ab. Was ist da los?
Irgendwann mal stellt er sie ab, als sie an einen Tunnel kommen und sagt ihr: "Lydia, geh durch diesen Tunnel. Er wird dich hier weg bringen. Sobald du draußen bist, dreh dich nicht in die Richtung der Stadt. Geh einfach weg. Weit weg. Halte dich Richtung Norden. Ich werde nach kommen. Ich werde dich suchen und finden. Mir passiert nichts. Und jetzt geh!"
Er schubst sie in den Tunnel und verschließt ihn. Die Wände des Tunnels erbeben und sie hat Angst dass er jeden Moment einstürzen wird. Doch noch viel stärker als die Angst und die Ungewissheit ist das Glück.
Sie ist frei.

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Schwarze Rosen
ParanormalAlle hielten sie für Verrückt, für eine Spinnerin. Keiner glaubte ihr als sie sagte, dass da etwas ist. Dass sie etwas holen wird. Etwas dunkles, etwas böses. Nun ist sie allein und ihre einzige Rettung ist das Licht des Tages. Doch wird sie das jem...