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Es ist also nun schon auch einige Wochen her, seit Lydia bei Dante untergekommen ist. Vieles ist geschehen in der Zeit. Sie hat die Bediensteten dort kennengelernt, die sie mit viel Fürsorge und Achtung wo sie nur können unterstützen. Keiner hier verachtet sie dafür, ein Mensch zu sein. Im Gegenteil. Wenn Dante sie mitnimmt um in die Stadt zu gehen, dann verbeugen sich die Leute dort vor ihr und sprechen ihre Ehrfurcht aus. Sie ist so etwas wie eine Heilige, oder eine Besonderheit für sie. 

Ebenso hat sie die Eltern von Dante Kennengelernt. Herr und Frau Kratos. Ihnen gehört das große Schloss und sie beide Herrschen seit vielen Jahren schon über das Reich über den Wolken. Hin und wieder führen sie Befehle des obersten und mächtigsten Königs aus, doch meistens meldet der sich nicht. Sie sind recht liebevolle Eltern, doch achten sehr streng auf Manieren und erlauben keinerlei Schimpfwörter. Auch eine kleine Tochter haben sie, die Lydia schon von anfang an in ihr Herz schließ, obwohl kleine Kinder doch eigentlich nicht ganz ihr Fall sind. Normalerweise hielt sie sich immer fern von den kleinen "Biestern" wie sie sie immer nannte. Doch jetzt, nachdem so vieles passiert ist, hat sie gelernt, die Dinge so zu akzeptieren wie sie sind. Die Meinung der kleineren Version der Himmelswesen ist so viel fantasiereicher und farbenfroher, es wärmt ihr jedes mal ihr etwas kälter gewordenes Herz. Fast täglich vergisst sie, was sie eigentlich wollte. Immer öfter ertappt sie sich dabei, wie sie doch tatsächlich glücklich ist, egal wie ihr derzeitiger Körperlicher Zustand ist. 

Sie fühlt sich das erste mal seit einer ewig langen Zeit wieder geliebt. Das erste mal kümmert sich wieder jemand um sie und sie hat Freunde gefunden. Gute Freunde, die ihr Leben immer so wundervoll gestalten. 

Einmal hat Dante sie mitgenommen zum schwimmen. Sie dachte sich nichts dabei, dachte es sei ein ganz normaler See. Als sie ankamen, fielen ihr fast die Augen aus dem Kopf. Überall blühten Blumen in blau, rot, rosa, lila oder gelb und überall flogen Hummeln und Bienen und Schmetterlinge umeinander (sie mag zwar keine Bienen und Hummeln aber in diesem Moment passten sie perfekt dazu, weshalb sie ihre Anwesenheit akzeptierte). Der See war glasklar und sie konnte kleine Fische in verschiedensten Farben erkennen. Das Gras war seidig weich und voller Leben, wie überall in der Welt über den Wolken. An diesem Tag fand sie endlich die innere Ruhe, nach der sie doch so sehnlichst gesucht hatte. Schon ihr gesamtes Leben lang. Danach sucht doch ein jeder Mensch oder? Nach dem eigenen Frieden? 

Nachts saßen sie, Dante, seine Schwester und einige Bedienstete immer am Balkon und beobachteten die Sterne. In jenen Nächten erzählte sie ihnen allen immer von der alten Zeit. Der Zeit, bevor das Leben sich um 180 Grad wendete. Sie erzählte von ihren Freunden, von ihrer Schule, von ihrem ersten Freund und ihrem ersten Kuss. Sie erzählte sogar von ihren täglichen Partys und dem blödsinn den sie immerzu aufführte in einem gewissen Zustand. Sie erzählte von ihrer Katze und beschrieb ihr kleines Häuschen in ihrer Nachbarschaft. Sie redete oft über ihre Hobbys und über ihre Eltern. Ihrer Mutter, der sie alles erzählen konnte und ihrem Vater, der immer für sie da war. In jenen Nächten fühlte sie sich glücklich, weil sie ihr Leben mit anderen Menschen teilen konnte.

Sie wird alles eines Tages vermissen, wenn sie von der Beere ist und den Schatten tötet. Sie wird alles irgendwann einmal vermissen, wenn sie wieder in ihr Heim zurück kehrt und alle nie wieder sehen wird. Sie ist sich ganz sicher, dass sie wieder nach Hause kommen wird. Sie muss einfach. Denn egal wie schön es hier ist, umso schöner ist es in ihrer eigenen Welt mit ihren Leuten, mit ihrem Leben und ihrer Freiheit. 

Dante ahnt jedoch nichts davon. Für ihn ist sie das perfekteste, atmenberaubendste und zauberhafteste Wesen, das er jemals gesehen hat. Noch nie war er verliebt gewesen, doch nun scheint sich das geändert zu haben. Jeden Tag ist er voller Vorfreude wenn er sie sehen kann. Ihr Lächeln, wenn er etwas dummes anstellt, ihr verträumter Blick, wenn sie von ihrem alten Leben erzählt, ihren glänzenden Augen, wenn er sie an neue erstaunliche Orte bringt und ihr starker Wille, der sie immer voran treibt. Sie ist so gesund wie schon lange nicht mehr. Gesund und stark ist sie geworden mit einem gesunden Appetit und einem unverwechselbaren Sinn für Humor. 

Er weiß nur nicht, ob er sie auch wirklich liebt, nur weil sie sie selbst ist, oder weil sie ein Mensch ist. Sie ist anders, exotisch. Nicht aus dieser Welt. Es weckt sein Interesse. Doch falls er sie doch nicht liebt, dann weiß er, dass er eine sehr gute Freundin gewonnen hat.

Und somit hat sie es in all diesen Wochen geschafft aller Vertrauen zu gewinnen. Sie würden alles für sie tun. Möglicherweise sogar sterben. Und als sie irgendwann mal von dieser Beere schwärmte, wurde ihr Wunsch erfüllt.

Heute ist es soweit. Der Tag, an dem sie ein wenig Freiheit zurück erlangt. Menschlich wird sie nie mehr werden, doch das ist ihr egal. Sie will wieder stark sein. Sie will wieder laufen können. Sie will wieder mit ihren Händen etwas berühren können.

Sie sitzt vor ihrem großen Spiegel im Zimmer und starrt ihre Haare an, die gerade von einer Dienerin gemacht werden. Weiße und Türkiese Blümchen werden in ihren Haaren fest gemacht und sie fallen in gesunden,  dunkelblonden Locken über ihr rosiges Gesicht. Danach wird sie geschminkt und als sie fertig ist, sieht sie aus wie eine Märchenprinzessin, die nur darauf wartet perfekt gestylt von ihrem Fluch erlöst zu werden.

Dankbar lächelt sie die Dienerin an. Sie ist so nett!

"Sie sehen wunderschön aus Madame Thompson", flüstert sie, woraufhin Lydia nur wieder mit einem herzhaften lächeln reagiert. Hier kann sie sie selbst sein.

Die Dienerin hilft ihr in ein Kleid zu steigen. Es ist weiß mit einigen Türkiesen stellen an den Ärmeln. Klettblumen, die sich an ihren Armen festsaugen, werden bis hin zu ihren Schultern befestigt. Sie blühen in einem strahlenden Gelb. Schuhe trägt sie keine und während sie in diesem Kleid wie eine aufblühende Frühlingsblume aussieht, so sieht sie doch nicht ganz so aus wie sie es sich wünscht.

Dante wird herein gerufen und als er sie so sieht, breitet sich ein strahlendes Lächeln auf seinen Zügen aus. 

"Wollen wir Madame?", fragt er übertrieben Vornehm in einem falschen französischen Akzent.

Lydia lacht und antwortet genauso vornehm: "Aber natürlich Monsieur."

Er fasst unter ihre Schultern und ihre Beine und trägt sie wie eine Braut aus der Tür und hinaus in die Heilige Stätte. Sie war noch nie dort, doch jedes Himmelswesen wird dort geboren und die Kraft entspringt dieser Stätte. 

Sie befindet sich in einer Höhle, deren Wände zu leuchten Scheinen und eine zarte Wärme ausstrahlen. Ehrfürchtig blickt sie in alle Richtungen, während sie Dante's beruhigendem Herzschlag lauscht. Das ist es. Gleich ist es soweit. 

Er sieht auf sie hinunter und sagt: "Du sieht heute umwerfend aus." In seinen Augen liegt Stolz. Stolz und Liebe. 

Sie antwortet entspannt: "Ja so schlecht bin ich nicht einmal ha?"

Daraufhin lacht er nur und schüttelt mit dem Kopf. Dann kommen sie in das Zentrum des Heiligen Ortes. Alle sind versammelt. Die Bewohner des Dorfes. Die Kratos Familie. Die Bediensteten und sogar Leute die sie gar nicht kennt. 

Sie wird in die Mitte des Raumes getragen. Die Wände scheinen nun in einem dunklen Blau und von ihnen scheint eine Melodie auszugehen, die sie beruhigt. In der Mitte befindet sich ein Baum, dessen Blätter lila leuchten. Darunter wird sie abgesetzt und allein gelassen.

Dante stellt sich etwas weiter weg, doch beobachtet sie genau. Dann beginnt ein Mann zu sprechen: "Du bist aus der Erde entsprungen und somit wirst du auch wieder zu Erde. Du wirst aus der Erde wachsen und stärker werden als zuvor. Du wirst neu geboren werden und das Leben lieben. Du wirst als Kind der Sonne oder der Nacht leben. Wirst das Licht oder die Dunkelheit in dir Tragen. Diese Beere bringt deine Seele zum vorschein. Wie sie aussieht, so wirst du aussehen und das wirst du werden. Einen Menschen haben wir noch nie davon essen lassen. Wir wissen nicht was geschehen wird. Sei vorsichtig."

Damit tritt er vor und reicht ihr eine kleine, rote Beere. Mit ihren Stummeln hält sie sie fest, führt sie zu ihrem Mund und beißt davon ab. Während in demselben Moment eine Erschütterung die gesamte Höhle erfüllt.

Schwarze RosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt