11 Kapitel

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Brief übergabe

Ich wurde glücklicherweise nicht von meinem Handy und auch nicht von meinem Wecker geweckt. Dafür fand Raphael es lustig, mich um kurz nach sechs zu wecken.

Naja, es wäre nur halb so schlimm gewesen, wenn er das absichtlich gemacht hätte. Doch das tat er nicht. Raphael sang nämlich unter der Dusche. Ziemlich laut und dazu noch ziemlich schlecht.

>>... La Cucaracha, La Cucaracha, den Rest kenne ich leider nicht. La Cucaracha, La Cucaracha ...<<

Stöhnend stand ich auf und quälte mich in die Küche. Dort setzte ich mich hin und ließ meinen Kopf auf der Arbeitsplatte ruhen.

Nach weiteren fünf Minuten ruhe, -die für meinen Geschmack viel zu kurz wahren-, kam Raphael mit Jeans und T-Shirt zu mir.

>>Hey Gidi. Ich dachte, du schläfst noch. Also ich konnte nicht mehr schlafen. Hab fast eine Stunde wach gelegen. Aber jetzt sag mal, warum bist du schon wach?<<

>>... La Cucaracha, La Cucaracha, ich haue dir gleich eine rein. La Cucaracha, La Cucaracha ...<<

Raphael machte ein leicht gequältes Gesicht. >>Sorry.<<

>>Naja, eine gute Sache hatte das Wecken immerhin. Wir können noch Frühstücken, bevor ich dich zur Schule fahre.<<

>>Wow, Moment. Schule?<< Klar, was hatte er den gedacht? >>Gideon. Du bist mein Bruder. Ich hatte angenommen, dass du mich so eine Woche oder so einfach nur entspannen lässt.<<

Ach bitte. Das hatte er doch nicht wirklich erwartet. So etwas Dummes ging doch gar nicht. Kein Gehirn von niemandem würde sich so etwas ausdenken.

>>Tja, falsch gedacht.<< Ich stand schwerfällig auf. >>Ich gehe dann mal duschen.<<

Raphael und ich parkten in meinem Mini vor der Saind Lennox High School. Dort warteten wir jetzt auf Mr Whitman.

Ich hatte ihn nach dem Duschen und vor dem Frühstück noch angerufen. Er war übellaunig wie eh und je. Noch dazu hat er während des vier Minuten Gesprächs ganze drei Shakespeare Zitate ziehen lassen.

Wie viele kannte der Mann?

Mr Whitman klopfte gegen Raphaels Fenster und wir stiegen beide aus.

>>Danke Mr Whitman. Ich weiß, es war sehr kurzfristig.<< bedankte ich mich. Raphael hingegen verdrehte nur die Augen.

>>Ach, das ist schon in Ordnung Gideon.<<

Ich nickte. >>Danke. Ehm ... wegen der Uniformen ...<<

>>Wir haben noch Ersatzuniformen. Eine davon wird Raphael schon passen.<< sagte Mr Whitman zu meiner Erleichterung.

>>Wartet. Schuluniform? Ich soll eine Schuluniform tragen?<<

>>Do sollst eine Schuluniform nicht nur tragen. Du wirst eine Schuluniform tragen.<< sagte Mr Whitman mit so viel Autorität in der Stimme, dass Raphael zusammenzuckte. Was Mr Whitman genauso wenig entging, wie mir.

>>Wie ich sehe, haben sie hier alles unter Kontrolle.<< sagte ich und stieg wieder in den Mini. Dann fuhr ich mit einem Grinsen weg. Grinsen musste ich, wegen Raphaels entrüsteten Blicks.

Endlich in der Loge angekommen ging ich ohne Umweg in den Drachensaal. Auf dem Weg dorthin begrüßte ich noch schnell Mrs Jenkins.

>>Hey Leute.<< begrüßte ich alle, die sich im Drachensaal befanden. >>Wie geht's? Und, was machen wir heute?<<

>>Du übergibst einen Brief.<< sagte Falk, ohne auf meine Begrüßung ein zu gehen. >>In dem Brief stehen Informationen über Lucy und Paul, die wir herausgefunden haben, da wir ja vermuten, dass sie sich bei Lady Tilney Unterschlupf gesucht haben. Die Wächter sollen Lucy und Paul in Tempel festhalten, damit du ihnen ihr Blut abnehmen kannst. Wir sehen keine andere Möglichkeit mehr an ihr Blut zu kommen.<< War ja klar.

>>Und in welchem Jahr wird das alles ablaufen?<<

>>1912. Du wirst den Brief dem Diensthabenden Wächter übergeben. Hast du alles verstanden?<< Nein, ich bin schwerbehindert und kann deshalb keinen Zettel übergeben.

>>Ja, klar.<<

>>Gut, dann geh mal zu Madame Rossini.<< Als wäre das nichts neues. Aber warum musste ich das machen? Mich sah doch keiner.

Doch ich ging ohne ein weiteres Kommentar zu Madame Rossini.

Dort stritten wir uns wieder um meine >Authentizität<. Oder wie sie meinte, meine nicht vorhandene >Authentizität<. Das ganze dauerte fast zwanzig Minuten.

Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Madame Rossini mich nicht mochte. Anscheinend schien sie sich mit Gwen aber super zu verstehen. Warum interessierte sich den keiner für mich?

Endlich im Chronografen Raum half mir Mr George -was eigentlich nicht nötig wäre-, mit dem Finger.

>>Viel Glück, Gideon.<<

>>Was soll schon schief gehen?<< fragte ich. Und mir viel beim besten Willen nichts ein.

Der ganze Raum wurde in weißes Licht getaucht, als ich verschwand.

Ich kam im Dunklen Raum an. Heute hatte ich einen Schlüssel mitbekommen, damit ich die Tür aufschließen konnte. Noch dazu hatte ich eine Taschenlampe. Ich knipste die Lampe an und machte mich dann auf den Weg nach oben zur Zerberus Wache.

Ich brauchte nicht lange um sie zu erreichen, da mir auch keiner begegnete, wie ich es mir auch gedacht hatte. Wie ich es Mr George gesagt hatte: >Was sollte schon schief gehen?<

>>Guten Tag.<< sagte ich zu der Wache. Er nickte mir zu und nahm den Brief.

Danke, sehr freundlich.

Ich drehte mich um und ging schon los. Denn ich fand es besser, im Chronografen Raum zu warten, anstatt mich am Ende ab zu hetzen.

Als ich fast angekommen war, sah ich eine Gestalt, mit ebenfalls einer Taschenlampe. Das einzige, was ich erkannte war, dass die Person lange Haare hatte. Also war sie ein Mädchen.

Dann war sie auch schon weg. Langsam ging ich in die Richtung.

>>Was zum ...<< flüsterte die Person.

Und auf einmal erkannte ich sie. >>Gwendolyn?<< Das war unmöglich. Das ging nicht. Oder?

Vielleicht hatte ich wegen des Schlafentzugs jetzt schon Halluzinationen. Möglich wäre es.

>>Wie kommst du hierher?<< fragte ich.

Einige Sekunden lang sah sie mich mit offenem Mund an. Dann lächelte sie mich an. Ich mochte ihr lächeln.

>>Äh, das ist ein bisschen kompliziert zu erklären.<< Kompliziert? Was sollte daran den kompliziert sein?

Sie sah in den Gang, aus dem sie gekommen war, bevor sie mich wieder anblickte.

>>Erklär's mir.<< forderte ich.

Aber anstatt mir zu antworteten meinte sie. >>Einen Moment bitte. Ich muss schnell mal was klären. Bin gleich wieder da.<<

Was sollte der scheiß? Ich wollte nicht warten?

Sie wollte wieder in den Gang, aus dem sie gekommen war, als ich nach ihrem Arm griff. Doch ich erreichte sie nicht.

Denn aus dem Augenwinkel erkannte ich, eine Bewegung. Doch bevor ich mich der Person zuwenden konnte spürte ich schon einen heftigen schmerz an meiner Stirn. Der Schmerz durchfuhr meinen Körper. Und in meinen Fingern und Zehen begann es sogar zu kribbeln.

Ich sah Gwen und dann wurde mein Blickfeld von schwarzen Punkten durchzogen. Bis ich gar nichts mehr sah.

Dann brach ich zusammen. Und das letzte woran ich dachte war: >Keine Halluzination<.


Saphirblau - Gideons SichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt