DREI - Mein Ursprung, Vertrauen und meine Flügel

9.8K 498 298
                                    


DREI

Mein Ursprung, Vertrauen und meine Flügel

Völlig ausgelaubt schalte ich den Herd aus und begebe mich in mein Zimmer. Meine triste Wand, die noch Rückstände von abgerissenen Bilderrahmen aufweist, scheint mich immer weiter einzuengen.

Ich bin mir im Klaren darüber, dass ich früher in meinem Zimmer sehr viele Bilder von Mom, Dad, Ellie und mir aufgehangen hatte, auch wenn ich noch sehr klein war. Dad war derjenige, der das Aufhängen für mich übernommen hatte, doch heute befindet sich kein einziges Bild mehr an der Wand. Zu groß ist der Schmerz, der mich jedes Mal wieder überwältigt, wenn ich ein Bild sehe. Zu groß ist der Verlust, den ich erlitten habe. Zu groß das Loch, das niemals wieder geschlossen werden kann.

Die Tränen wegblinzelnd hebe ich meine Matratze hoch, stütze diese auf meinem Knie ab und krame die Box heraus, die ich dort drin vergraben habe. Es ist schon ewig her, seit ich sie das letzte Mal herausgeholt habe. Eigentlich habe ich mir diese Bilder immer angeschaut, wenn etwas Wichtiges bevor stand, allerdings war ich in den letzten Jahren nicht mehr in der Lage dazu. Immer wieder habe ich Bilder von Mom angeschaut und so getan, als würde sie mir sagen, was ich jetzt tun soll. Ich hatte die Hoffnung, dass das Anschauen von Erinnerungen mir helfen würde. Mom war immer diejenige, die mit mir redete, wenn ich keine Ahnung hatte, was ich machen sollte, weshalb mir diese Box voller Bilder sehr am Herzen liegt. Mit zitternden Händen setze ich mich auf mein Bett, rücke ganz nah an die Wand und werfe einen Blick hinein. Tausende von Erinnerungen springen mir ins Auge, von denen ich mir nicht sicher bin, ob ich sie wieder aufwühlen möchte.

Wann habe ich diese Box das letzte Mal geöffnet? Ich glaube das war vor zwei Jahren. Vorsichtig hole ich einen Stapel Bilder heraus, den ich anschließend in meinen Schoß lege. Die Tatsache, dass ich jetzt schon gleich anfange zu weinen, ist genau der Grund, warum ich diese Erinnerungen so lange weggesperrt habe. So lange habe ich versucht, sie in meinem Unterbewusstsein zu verstecken, jedoch ist das unmöglich. Ich bin nicht wie Ellie, nein. Ich bin das genaue Gegenteil, sie ist die Gefühlskalte und ich die ewig Trauernde, deren Seele nie über den Schmerz hinweg kommen wird. Ich werde diesen Berg niemals überwinden, und dabei bin ich mir nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist.

Langsam drehe ich das erste Foto um und betrachte es neugierig. Wie der Zufall es will, sitze ich dort neben Mom an einem Lagerfeuer, dessen Funken ... um mein Gesicht fliegen? Verwirrt schüttle ich den Kopf und stelle fest, dass ich es mir nur eingebildet habe. Jetzt drehe ich definitiv durch. Erst die Sache mit Ellie und jetzt das.

Eigentlich habe ich meinem Unterbewusstsein mit dieser Box erlaubt, die Erinnerungen für einen Moment wieder anzutasten, weil Al wegen seiner fehlenden Mutter so traurig war und das auf mich übertragen hat, aber ich bemerke, dass der Grund, warum ich wieder hier bin und Erinnerungen anschaue, schnell eine ganz andere Richtung einschlägt. Das Lagerfeuer auf dem Bild hat mich wieder auf die Idee gebracht.

Was ist vorhin passiert? Was habe ich Ellie angetan? Ich hasse es, über etwas zu grübeln, von dem ich keine Ahnung habe, aber ich muss eine Antwort finden. Es ist ja wohl nicht üblich, dass ich meine Schwester mit bloßen Händen verbrenne. Ich meine, wie zur Hölle habe ich das angestellt? Wie ist so etwas möglich? Fragen über Fragen, die ich nicht beantworten kann. Aus diesem Grund habe ich diese Box geöffnet. Mit Hilfe ihrer Gestalt auf einem Foto fühle ich mich ihr ein Stück näher. Diese Nähe bringt allerdings auch viel Schmerz mit sich. Al hat mir mit seinem Geständnis wieder klar gemacht, was wir beide niemals haben werden:

Eine Mutter, die uns zum College fährt und zusieht, wie wir zum ersten Mal den Campus betreten. Eine Mutter, die stolz auf uns ist und weint, wenn sie sieht, wie wir zum Altar laufen. Ich in meinem Hochzeitskleid und Al in seinem Anzug. Eine Mutter, die mir den Reißverschluss meines Hochzeitskleides zuzieht, mir beruhigend über den Kopf streichelt, während ich vor Nervösität fast sterbe. Eine Mutter, die mir Halt gibt, wenn ich ratlos bin. Eine Mutter, die mir Kraft gibt und mich ermutigt, niemals aufzugeben. Eine Mutter, die mich in den Arm nimmt und allein mit ihrer Präsenz meine Wunden heilt. Eine Mutter, die mein Vertrauen zu mir selbst wieder aufbaut oder es für mich übernimmt, wenn es gänzlich verschwunden ist. Eine Mutter, die mich immer wieder unterstützt und mich wieder fliegen lässt, wenn ich verlernt habe, aufzustehen. Eine Mutter, die der Ursprung meiner Liebe ist. Deren Liebe die erste war, die ich erfahren habe. All das werde ich, wird Al, niemals haben und ich beneide jeden darum, der eine Mutter hat und solche wunderschönen Erinnerungen erfahren darf. Ich weiß, dass ich noch Dad habe, ich bin natürlich dankbar dafür, doch das ist nicht das selbe. Die Liebe einer Mutter ist etwas Unvergleichbares, das Band ist stärker als jedes andere. Doch dieses Band wurde mir zu früh kaputt gemacht. Zu früh wurde mir meine Mutter genommen, die jetzt neben mir sitzen und mir sagen sollte, was ich mit Ellie gemacht habe, anstatt mich nur auf dem Foto anzulächeln. Seufzend erwische ich mich dabei, wie Tränen auf das Bild tropfen. Ich möchte nicht weinen, aber diesmal kann ich es nicht aufhalten. Ich konnte es im Kindergarten und vor Al zurückhalten, doch jetzt nicht. Die Tränen haben sich schon zu lange angestaut, sodass ich wenige Sekunden später ein ganzes Tränenmeer vergieße, während ich mir die Fotos anschaue. Mom war so ein guter Mensch und trotzdem wurde sie mir – uns – genommen. Mir ist bewusst, dass das Leben auch aus frühzeitigen Toden besteht, dennoch wünsche ich mir eine Mutter für Al. Es wäre schön, eine Mutter zu haben, trotzdem kann ich es für mich irgendwie akzeptieren. Al hingegen ist noch zu jung.

Blazing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt