XVI

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An diesem Abend weinte ich mich in den Schlaf. Ich fühlte mich so verdammt unvollständig und innerlich zerissen, so kaputt, dass selbst Shay mir keinen Trost spenden konnte.
Und so hatten wir stumm unser Lager am Rande einer kleinen Lichtung aufgeschlagen, gerade so im Schutz des Unterholzes.

Als ich mitten in der Nacht plötzlich aus dem Schlaf schreckte, schnellte meine Hand zu meinem Mund und presste sich auf ihn, um mein gequältes Schluchzen zu dämpfen. Fahrig löste ich mich von Shay und entfernte mich schnell einige Meter, meine Sicht verschleiert durch meine Tränen...

Und so sitze ich nun hier, habe die Tränen nach elendigen Minuten endlich stoppen können, doch das, was geblieben ist, ist fast noch schlimmer. Ich fühle mich leer, kein Gefühl regt sich mehr in meinem Inneren, es ist einfach nichts mehr so wie vorher. Nichts ist geblieben... Bei diesem Gedanken rinnen mir erneut Tränen über meine Wangen, ich gebe jedoch noch immer keinen Ton von mir. Ich lehne mich gegen die junge Kiefer und starre in den sternenübersähten Himmel, minutenlang.

In Zeitlupe kann ich beobachten, wie sich das Tiefschwarz der Nacht nach und nach aufhellt und immer mehr in ein tief dunkles Blau übergeht. Als mich plötzlich etwas berührt, schreie ich auf und weiche schnellst möglich zurück. Shay.

Perplex schaut er mich an, sein Mund erschrocken ein Stückchen geöffnet. Sein Blick gleitet über mein Gesicht. Peinlich berührt wende ich meinen Blick ab und schlinge meine Arme um meine angewinkelten Beine. Mir ist kalt.
"Leif...", haucht er verzweifelt. Plötzlich zieht er mich in seine Arme, ich möchte mich von ihm lösen, da mir schon wieder die Feuchtigkeit in die Augen steigt, doch er verfrachtet mich einfach auf seinen Schoß. Ergeben presse ich mich also doch an ihn und vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter.

Lange Zeit gibt niemand auch nur einen Ton von sich. Immer schneller rinnen meine Tränen über meine Haut, denn seine Nähe macht das alles nur noch viel schlimmer. Fast kann ich greifen, wie es ihn innerlich zu zerreißen scheint und will mich erneut von ihm losmachen, will einfach von ihm weg. Doch er umschließt mich fester mit seinen Armen, fast so als wäre er derjenige, dem es schlecht ginge.
"Du darfst diese Gefühle nicht wieder in deinen Abgrund schmeißen, Leif. Du musst das hier zulassen sonst wirst du es nie verarbeiten können." Wie erstarrt höre ich ihm zu, von der Tatsache vollkomen geschockt, wie schwach seine Stimme klingt, wie sie zittert.

Erst jetzt nehme ich die durchdringende Wärme wahr, die sich auf meinen eiskalten Körper überträgt und wie er unter meinen kalten Händen zu zittern begonnen hat. Wie er unter meinen Tränen immer tiefer in sich zusammen zu sinken scheint.

Wieder bricht keiner die langanhaltende Stille zwischen uns, bis sich mein miserabeler Zustand langsam legt und meine Sorge um ihn sich plötzlich in den Vordergrund drängt.
"Ich habe nur etwas geträumt...", versuche ich es herunter zu spielen.
"Erzähl mir davon", haucht er sanft. Kurz zögere ich und suche nach den passenden Worten.

"Ich... habe von meinem ehemaligen besten Freund geträumt..." Es fällt mir schwer darüber zu reden, es kostet mich Überwindung so offen zu sein. Aber er ist mir wichtig. Ich möchte, dass er davon weiß.
"Wir kannten uns seit wir denken konnten und verstanden uns schon immer wirklich gut. Beste Freunde wurden wir jedoch erst, als meine Mutter anfing mich... zu misshandeln. Ich versuchte mehrfach mich jemandem anzuvertrauen, gestand ihnen unter Tränen was Kristen mit mir anstellte. Aber sie war der Beta, sie war beliebt. Im Nachhinein weiß ich nun auch, dass mein Vater nicht den besten Ruf hatte... Und so kam es, dass mir niemand glaubte. Alle dachten, ich müsse schlimme Dinge tun, dass sie versuche mich 'wieder gerade zu biegen'. Chiron wusste davon. Und doch behandelte er mich nicht so, wie die anderen, er überging es einfach. Er gab mir dadurch Halt, dass ich wusste, er würde immer hinter mir stehen. Egal wie schlimm sie mich zurichten würde, er wäre immer noch an meiner Seite." In Erinnerungen schwelgend betrachte ich die Sterne, ich fühle wie sein Blick auf mir ruht und bedächtig über meine Gestalt gleitet.

"Als seine Mutter anfing ihn sexuell zu benutzen, schweißte sie uns unbewusst immer dichter zusammen. Wir schworen uns immer nach dem Ritual gemeinsam alles hinter uns zu lassen, aber dazu kam es nie", erzähle ich verbittert. Erneut schießen mir Tränen in die Augen, als ich an diesen einen Tag denke, der doch so viel verändert hat. Sanft wischen seine Daumen über meine Wangen und verteilen die salzigen Tropfen auf meiner Haut. Dankbar lächle ich ihn an, er erwidert es sanft.

"Wir tollten im Wald herum, es war eigentlich ein Tag wie jeder andere, mir viel auch im Nachhinein nichts merkwürdiges auf... E-Er war einfach verschwunden. Erst rannte er noch hinter mir her und als ich mich dann das nächste Mal umdrehte, war er nicht mehr da, einfach weg... Aufgelöst eilte ich also zu Kristen, berichtete ihr davon und sie schickte einen Suchtrupp los..." Zum Ende meiner Erzählung wird meine Stimme immer monotoner, ich kann es immer noch nicht glauben. Vielleicht hat Shay Recht und ich habe das alles nie richtig verarbeitet, habe es immer nur verdrängt...

"Einige Stunden später fand man im Wald seine Leiche. Zerfetzt wie ein gerissenes Tier... E-Es war für mich das Schlimmste was je hätte passieren können. Chiron war alles in meinem Leben. Er war förmlich mein Leben..." Shay küsst behutsam meine Stirn und zieht sie dann gegen seine Schulter, seine Hände streichen zart über meinen Rücken.
"Das Schlimmste war, dass alle daran zu glauben schienen, dass ich es war." Seine Hände verspannen sich in meinem Rücken, bis er mich noch näher zieht.
"Ich sollte ihn umgebracht haben. Ich sollte Chiron umgebracht haben... Seit diesem Tag hatte ich meinen Ruf sicher und meine Beziehung zu Kristen wurde schlimmer denn je - ihre Strafen auch." Er zuckt unter meinen Worten zusammen. Als ich seinem Blick begegne, realisiere ich erst, dass er still vor sich hin leidet. Nichts weißt darauf hin, nur seine Augen zeigen mir die schmerzhafte Wahrheit.
"Gott Leif...", stößt er murmelnd hervor. "Das ist doch sadistisch...", fügt er erschüttert an, ich lasse es ihn auf das hinzuweisen, was er mir angetan hat...

"Das Photo...", bringt er nach einiger Zeit zusammenhanglos hervor und schluckt schwer.
"Die Frau... sie ist meine Mutter." Meine Augen weiten sich. Auch wenn ein kleiner Teil von mir sich das ausgemalt hat, so richtig habe ich doch nie daran geglaubt.
"Wer ist sie?", frage ich vorsichtig und seine Stirn sinkt gegen meine nackte Schulter, mehrmals atmet er tief durch.

"Immer wenn ich jemanden gefragt habe, erzählte man mir die gleiche Geschichte, irgendwann glaubte ich es wirklich...", murmelt er.
"Sie soll freiwillig gegangen sein, weil sie sich in einen Vampir aus einem anderen Clan verliebt haben soll. Ich habe bis heute nicht herrausfinden können, wer er ist... Nun, sie wurde schwanger und er verließ sie. Und so musste sie sehen wie sie mit mir über die Runden kam." Er hällt kurz inne, nimmt sich Zeit sich zu sammeln.

"Sie bat sich Männern für Geld an und nutzte sie zum Ausgleich als verlässliche Blutquelle. Es war kein gutes Leben, was wir führten, das merkte ich auch, trotzdessen, dass sie versuchte mich aus allem herauszuhalten." Seine leisen Worte murmelt er gegen meine Schulter, ununterbrochen wandern seine Finger über meine Haut.

"Irgendwann muss ein Vampir ihr Geheimnis gelüftet haben und versetzte ihrem Leben ein abruptes Ende. Damals verstand ich nicht, warum sie mehrere Tage nicht zu mir kam, ich war noch klein. Doch dann hörte ich, wie es in unserer kleinen Wohnung rumpelte, Männer schrien herum und ich verkroch mich unter meinem Bett. Ich erinnere mich nur noch daran, wie mich jemand darunter hervor zerrte und mit sich nahm..." Traurig betrachte ich seine zusammen gesunkene Gestalt, das Schuldbewusstsein kriecht mir langsam in die Adern.

"Einer aus meinem Clan scheint uns die ganze Zeit über beobachtet zu haben und hat mich gerettet. Ich frage mich immernoch, warum er uns nicht schon früher geholfen hat... Er hätte ihr Leben retten können, aber er tat es nicht", haucht er. Eine Gänsehaut überzieht meinen immernoch unterkühlten Körper.
"Es tut mir leid, Shay... tut mir leid.", wiederhole ich fast schon mantraartig. Was geschehen ist, ist schlimm, was ich damals allerdings gesagt habe, ist noch viel schlimmer. Ich wollte ihn damit verletzen, dass ich sagte, ich würde seine Mutter ficken. Wie sehr ich ihn damit wirklich getroffen habe, wird mir erst jetzt bewusst.
"Tut mir leid..." - "Leif, du wusstest es nicht." Ich nicke nur stumm und wage es nicht ihm in die Augen zu sehen.

Wie aus dem Nichts treffen seine weichen Lippen auf meine salzüberkrusteten und lenken mich sehr wirkungsvoll von meinen schuldbewussten Gedanken ab. Er ist vorsichtig, liebevoll und ich schlinge meine Arme und Beine um ihn, kann das taube Gefühl in mir nun endlich teilweise abschütteln.
Ich spüre wie er an meinen Lippen verhalten lächelt.

Alte Wunden erneut aufzureißen, ist schmerzhaft, aber vielleicht haben wir jetzt endlich die Chance, sie vernarben zu lassen.

Vielleicht würden wir es beide irgendwann schaffen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nach vorn zu blicken...

Blood Feud (mxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt