Traurig sein dürfen

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Die Uhr im Armaturenbrett wies mich daraufhin, dass ich jetzt schon zwölf Minuten hier im Pick-Up saß, ohne auszusteigen. Ich hob meinen Blick und starrte regungslos auf die Ranch. Weiße Mauern. Tiefreichendes Dach. Vier Fenster auf dieser Seite. Und die Tür. Ein Fensterladen wie immer ein Bisschen schief. Würde er sehr quietschen, wenn man ihn schließen würde? Ich blinzelte. Es war der Fensterladen zu Nicks Kinderzimmer. Nick.
Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper, weil ich plötzlich Angst hatte, ich könnte zerreißen. Innerlich- natürlich.
Ich wusste, dass Nick seine Fensterläden nachts immer fest verschließt, seit dem er und Noah heimlich „Saw" gesehen haben. Als Mom die beiden entdeckt hat, hat sie sich furchtbar aufgeregt und gesagt, mit neun Jahren könne man einen solchen Horrorfilm noch nicht verdauen. Sie haben damals tunlichst abgestritten, sich gefürchtet zu haben. Deshalb würde Nick es nie zugeben, sich nachts zu fürchten.
Meine Fingernägel bohrten sich in meine Oberarme, aber ich konnte meinen Griff nicht lockern. Die Angst war mal wieder stärker.
Was er jetzt wohl gerade tat? Nick?
Irgendwie glaubte ich mich daran zu erinnern, dass Mom und Dad angekündigt hatten, heute mal an den Strand zu fahren. War Nick mitgegangen?
Die Uhr zeigte jetzt schon ungeduldig, dass ich schon knapp neunzehn Minuten hier drinnen fest saß. In meinem geparkten Auto, vor meinem zu Hause, gefangen in meinem Körper, gefesselt von meiner Angst.
Ich schluckte.

Angst ist etwas Reales.

Angst ist für mich so spürbar, wie breite Taue, die sich grob um dein Handgelenk schnüren, die zarte Haut dort wund schürfen, bis man, unfähig zu irgendeiner Regung, aufgibt.

Es klopfte an die Scheibe des Beifahrerfensters.

Ich erschrak zu Tode und vermutlich erschreckte ich damit Nick, denn auch er sprang kurz auf. Einen Moment lang schauten wir uns beide baff an, dann öffnete er die Beifahrertür und kletterte auf den Sitz.

„Hi", sagte er schlicht und schaute dann ruhig gerade aus.

Ich musste mich darauf konzentrieren, wieder ruhiger zu atmen.

„Ich dachte, du wärst auch ans Meer gefahren"

Er schüttelte den Kopf. „Wenn Roy nicht mitkommt, ist es eh langweilig"

Ich brachte ein halbes Lächeln zu Stande.

„Was machst du grade?", fragte Nick vorsichtig, so als befürchte er einen Ausraster meinerseits, wie es manchmal passieren konnte, wenn jemand zu nah an meine Angststörung tastete.

Ich zuckte mit den Schultern. Ich fühlte mich leer und schwach und schon wieder besiegt.

„Traurig sein"

Nick sah mich interessiert an. „Wozu?"

Wieder zuckte ich mit den Schultern. „Weil ich gerade einfach nur traurig sein will"

Er nickte ernst.

Ich hob eine Augenbraue. „Verstehst du das?"

Wieder nickte er. „In der letzten Schulwoche, als ich vom Klettergerüst gefallen bin, hab ich auch einfach nur weinen wollen. Die Lehrerin aus der Parallelklasse hat mir gesagt, ich solle aufhören zu weinen und weiterspielen, aber ich wollte einfach nur in Ruhe weiterweinen. Weil es wehgetan hat"

Ich schaute ihn mit einer Mischung aus Ungläubigkeit, Verwunderung und Bewunderung an.

„Tut dir was weh?"

Ich nickte.

„Dann sollten wir jetzt ins Wohnzimmer gehen und traurig sein"

Ich schaute ihn erstaunt an, aber er hüpfte ganz ernst aus dem Pick-Up, rannte um den Wagen und half mir dann auch aus dem Wagen.

Die Kunst des ClownsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt