Schokolade macht glücklich (Bonuskapitel)

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Andächtig strich ich mit meinen Fingerspitzen über den mit Zeitungspapier eingebundenen Buchdeckel.
Ich schloss die Augen und erinnerte mich daran, wie Roy in meinem Zimmer stand und dieses Buch aus dem Regal nahm. Wie er dachte, es sei irgendein Schmuddelroman, den ich vor meiner Mutter verheimlichen würde. Wie ich ihm erklärte, dass dies nicht der Fall sei, sondern dass es sich vielmehr um mein Viel-Mehr-Als-Bloß-Lieblingsbuch handelte und ich es darum geheim halten wollte. Wie er begonnen hatte, darin herumzublättern und wie ich es ihm erschrocken aus der Hand riss, damit er nicht die letzte Seite aufschlagen würde. Die Seite, die ich selbst noch nicht gelesen hatte, weil ich nicht wollte, dass das Buch ein Ende hatte. Wenn ich es so immer wieder von neuem zu lesen begonnen hatte, hatte es sich immer angefühlt, wie das erste Mal, weil ich den Schluss ja noch nicht kannte.

Unwillkürlich zogen sich meine Mundwinkel nach oben. Ich öffnete die Augen und beobachtete die klitzekleinen Staubpartikel, die in der sonnendurchfluteten Hütte herumtanzten, scheinbar ohne je auf den Boden zu fallen.

Seit Roy mit seiner Familie und dem Zirkus weitergezogen war, waren schon einige Wochen vergangen. Wochen, in denen der Zirkus immer weiter weg fuhr. Inzwischen mussten sie wahrscheinlich schon in Salt Lake City angekommen sein. Rund 720 Meilen von mir entfernt.

Ich schluckte und sah andächtig auf das Buch in meiner Hand.

Dank Roys Brief letzten Montag hatte ich mich endlich dazu überwunden, es fertig zu lesen. Und damit hatte er mich wie immer ein kleines Bisschen glücklicher gemacht.

In seinen Briefen, die er wöchentlich an mich adressierte, stand jedes Mal eine neue Aufgabe, die er auf die Happylist gesetzt hatte und die ich erfüllen musste. Ich musste schmunzeln, wenn ich daran dachte, wie viele verrückte Dinge ihm schon eingefallen waren. Unter anderem hatte er mich dazu überredet, eines meiner unnötig erworbenen Partykleidern anzuziehen und damit in das Café zu gehen, in dem wir zusammen waren. Er meinte es sei viel zu schade, solch atemberaubende Kleider im Schrank versauern zu lassen, nur um auf eine Gelegenheit zu warten, die eh nicht so schnell kommen würde. Also hatte ich mich tatsächlich nur für ein Glas Mineralwasser schick gemacht.

Des Weiteren schrieb er mir einmal, ich solle mit geschlossenen Augen mit dem Zeigefinger auf eine zufällig aufgeschlagene Seite des Telefonbuchs zeigen, dort anrufen und dem- oder derjenigen, die abhob, einen schönen Tag wünschen. Bei meinem Glück fürchtete ich einen Bestattungsservice zu erwischen, aber letztendlich war am anderen Ende der Leitung eine ältere Frau, die einen Blumenladen in der Stadt besaß und die ein solches Telefonat bitternötig zu haben schien. Ich musste Lächeln als ich daran dachte, wie sie sich gefreut hatte, als ich ihr eine Weile lang zuhörte, wie sie über Blumen sprach, die ihr immer die engsten Freunde waren und die die einzigen waren, die sie jetzt noch hatte.

In der darauffolgenden Woche war ich zusammen mit Nick in ihren Laden gegangen. Nick hatte darauf bestanden, ihr einen Eisbecher aus der verrückten Eisdiele mitzubringen. Gleich auf Anhieb war sie uns beiden so sympathisch, dass wir auch weiterhin zu ihr gingen. Vor allem Nick, der ihr stundenlang an den Lippen hängen konnte, wenn sie über saisonale Schnittblumen sprach, schien ihr ans Herz gewachsen zu sein. Roy hatte mit seinen Ideen also wie immer vielen Menschen ein Lächeln ins Gesicht gezaubert.

Ein anfänglich schüchternes, aber immer lauter werdendes Klingeln holte mich aus meinen Tagträumen zurück in die stickige Holzhütte. Ich legte das Buch auf den Boden neben das Sitzkissen, streckte mich und stand dann auf, um den aufgerollten Zettel zu lesen, der, zusammen mit einem kleinen Glöckchen an ein Band geknotet war und gerade durchs offene Fenster gezogen wurde. Ich löste den kleinen Zettel, den wohl Nick aus seinem Zimmer an das Band gebunden hatte und strich es glatt. „Geschenk" stand drauf.

Die Kunst des ClownsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt