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An: jessmitderbuechersammlung@gmx.de
Von: d.brieffreund@gmx.de
Betreff: Wie kann ich Dir nur jemals danken?

Danke, dass Du vorhin ans Telefon gegangen bist. Für einen kleinen Augenblick dachte ich, Du würdest meinen Anruf wieder ignorieren. Natürlich hätte ich es verdient, aber ich hatte Deinen Zuspruch und Deine Hilfe wirklich nötig. Jetzt habe ich endlich einen klaren Plan davon, was ich noch abzuarbeiten habe und wie die nächsten Tage ablaufen sollen.

Ich weiß, ich breche unsere Vereinbarung mit dieser E-Mail, doch ich kann nicht warten, bis wir uns auf der Beerdigung sehen. Es fühlt sich an, als würde ich in dieser kurzen Zeit zulassen, dass Du wieder eine Mauer errichten kannst. Daher ist das einzig sinnvolle das mir in den Sinn gekommen ist, Dir eine ganz bestimmte Geschichte zu erzählen. Eine Sache, über die ich immer stillschweigen bewahrt habe. Pass nur auf Jess, ich werde mich jetzt vollkommen entblößen und Du kannst bei meinem Seelenstriptease zusehen.

Eigentlich ist die Geschichte, wie mein Vater uns verlassen hat, nichts Besonderes. Sie ist vermutlich nur eine von Vielen, aber sie hat mich damals ziemlich mitgenommen. Mein Vater hatte die Wochen vor der Trennung immer lange in der Arbeit zu tun. Er kam abgehetzt nach Hause, hat meine Mutter kaum noch angesehen und mich mit Schimpftiraden in mein Zimmer verscheucht. Es war klar, dass ihn etwas belastete, ihn aufwühlte. An einem Abend kam er erst nach Mitternacht nach Hause. Ich konnte meine Eltern im Wohnzimmer streiten hören und meine Mutter hat ihm vorgeworfen, er würde mit seiner Sekretärin schlafen. Er hat es abgestritten, aber würde das nicht jeder Mann tun, der seine Frau betrügt? Sie nannte ihn einen "Hurenbock" und kurz darauf hörte ich einen lauten Knall. Als ich ins Wohnzimmer gerannt kam, kniete er über ihr und würgte sie. Er hatte sie gegen einen Schrank geschleudert und war dabei, ihr die Luft abzuschnüren. Als er mich im Türrahmen sah, ließ er von ihr ab, murmelte eine Entschuldigung und verschwand aus dem Haus.

In den Tagen danach war er das reinste Lamm. Er kam pünktlich nach Hause, umschmeichelte meine Mutter und spielte mit mir im Garten. Es dauerte nicht mehr lange, bis sich das Szenario wiederholte. Er schlug sie öfter und fester. Ein paar Wochen darauf schlug er auch mich. Als meine Mutter das herausfand, hat sie ihn aus dem Haus geworfen. Er kam wochenlang, jeden Abend zu uns nach Hause, flehte meine Mutter an ihn zurückzunehmen und fuhr dann, wenn er genug vom Betteln hatte, wieder davon. Meine Mutter und ich waren der festen Überzeugung, dass er sie betrogen hatte und vor Schuldgefühle beinahe umkam. Er hatte sie schließlich zum ersten Mal geschlagen, als sie ihm genau das vorgeworfen hatte. Es machte Sinn!

Etwa zehn Jahre später, ich hatte mir gerade wieder eine Beziehung zu ihm aufgebaut, da hat er mir dann erzählt, was wirklich passiert ist. Mein Vater wurde als Kind vergewaltigt, von seinem eigenen alten Herrn. Er hat die Taten über sich ergehen lassen, stillschweigend, sich mit 18 davongestohlen und jeglichen Kontakt abgebrochen. Meiner Mutter und mir hat er erzählt, er sei ein Waisenkind gewesen und seine Eltern wären bei einem Autounfall gestorben. An dem Abend, an dem er das erste Mal später nach Hause kam, hatte er seinen Vater zum ersten Mal wiedergesehen. Man hatte ihn zum direkten Vorgesetzten meines alten Herrn erklärt. Jede Schandtat die mein Großvater an ihm ausgelassen hatte, brach in ihm hoch, doch er konnte nichts sagen, schließlich glaubten alle, er wäre ein Waisenkind. An dem Abend, an dem er meine Mutter zum ersten Mal geschlagen hatte, war er in einer Bar gewesen um seinen Vater zum Gehen zu bewegen, doch der hatte allen Ernstes den Schneid, ihn unsittlich zu berühren. Als meine Mutter also erwähnte, er wäre ein Hurenbock, brach jeder schreckliche Gedanke aus ihm hervor.

Ich habe jahrelang gedacht, mein Vater wäre ein widerwärtiges Schwein, weil er mich und meine Mutter geschlagen hat, dabei war er selbst ein gebranntes Kind. Seit ich 16 bin, predigt er mir, dass ich Niemandem auf dieser Welt vertrauen soll, außer ich habe ein Druckmittel in der Hand. Eigentlich dachte ich, seine Worte wären an mir abgeprallt, doch dann saß ich am Totenbett meiner Mutter und da schien es plötzlich so simpel. Ich habe Dich jahrelang zurückgedrängt, Dir nie die Chance gegeben, mir zu helfen, mich zu verstehen, mich so zu sehen, wie ich bin. Ich habe Dir nur Teile von mir gezeigt, dabei hattest Du mehr verdient. Du verdienst mehr, Andrea.

Diese E-Mail wird nicht gut machen, was ich angerichtet habe, doch sie könnte der erste Schritt sein, wenn Du es zulässt.

Wir sehen uns auf der Beerdigung.

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