Kapitel 1 - Ein Mädchen überlebt

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Mr Steinhardt in der Fronhofstraße war stolz darauf, ganz und gar unnormal zu sein, sehr stolz sogar. Niemand wäre auf die Idee gekommen, er könnte sich nicht in eine merkwürdige und geheimnisvolle Geschichte verstricken, denn mit solchen Sachen wollte er immer zu tun haben.

Mr Steinhardt war Besitzer eines Etablissements namens Sangues, jedoch hauptberuflich Pathologe. Er war groß, schlank und leichenblass, dafür hatte er rabenschwarzes, kniekehllanges Haar, was allerdings sehr unnützlich war, denn das Beerdigungsinstitut pflegte sich zu beschweren, wenn ein Exemplar davon aus der zugenähten Bauchdecke eines ‚Kunden' ragte – daher band er es sich mit einem Zopfgummi zusammen.

Mr Steinhardt besaß alles, was er wollte, doch er hatte auch ein Geheimnis und dass es jemand aufdecken könnte, war ein unangenehmer Gedanke. Einfach bescheiden wäre es, wenn die Sache mit Satoru herauskommen würde. Satoru war der Vater von Mr Steinhardt, doch die beiden hatten sich schon seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen oder gesprochen. Mr Steinhardt behauptete sogar, dass er gar keinen Vater hätte, obwohl ihm das kaum jemand mit mehr als fünf Jahren Lebenserfahrung abkaufen wollte. Was würden bloß seine Gefährten sagen, sollte Satoru eines Tages in seiner Behausung aufkreuzen? Er wusste, mit welcher Art von Sippe sein Erzeuger sich schon seit etlichen Jahrzehnten herumzutreiben pflegte, einer der ausschlaggebenden Gründe, weshalb Mr Steinhardt schon vor Abschluss seiner Schulzeit gleich mehrere Landesgrenzen zwischen sich und sein Elternhaus gebracht hatte; mit solch einer speichelleckenden Schande wollte er nicht in Verbindung gebracht werden.

Als Mr Steinhardt an dem verregneten und kühlen Montag, an dem unsere Geschichte beginnt, die Augen aufschlug, war an dem wolkenverhangenen Himmel draußen kein Vorzeichen von dem bevorstehenden Ereignis, das sein Leben komplett umkrempeln sollte, zu erkennen. Mr Steinhardt summte vor sich hin und suchte sich für die Arbeit seinen schicksten, schwarzen Trenchcoat heraus, während sein Mitbewohner, Johnny, wutentbrannt in die Hörmuschel eines quietschgelben DFeAp 322 Fernsprechtischapparats schrie und dabei den letzten Meter einer Albino Boa Constrictor in ein Terrarium stopfte.

Um halb neun griff Mr Steinhardt nach seiner Zigarettenschachtel und seinen Autoschlüsseln, gab Johnny, welcher derweil seine Schimpftirade beendet hatte und dazu übergegangen war, die Saiten seiner Akustikgitarre zu stimmen, einen Klaps auf die Schulter und warf Brunhilde – der sieben Meter langen Schlange – zum Abschied eine Ratte durch die Glasklappe. Diese verschlang das haarige Kleintier, noch bevor er ganz aus der Wohnungstür verschwunden war.

Die nächsten hundert Meter Fußweg von der Tür bis zum wirklichen Ausgang, die von einem Tunnel voneinander getrennt wurden, legte Mr Steinhardt, wie jeden Arbeitstag, im Laufschritt und mit der Unterstützung einer Filterzigarette zurück, dabei schlürfte er hin und wieder an seiner dritten Ladung Kaffee aus einem Thermobecher.

Direkt vor der schweren Eisentür stand auch schon sein brandneuer Jaguar XJ 12 5.3 mit dem er so vorsichtig wie nur möglich an dem steinernen Rundbrunnen vorbeirollte, um sich unter gar keinen Umständen einen Kratzer in den nachtschwarzen Lack zu fahren.

An der Straßenecke fiel ihm zum ersten Mal an diesem Tag etwas Ungewöhnliches auf, als er in den Rückspiegel schaute – ein Junge, kaum älter als siebzehn, der einen Spitzhut und einen rubinroten Umhang trug, saß auf dem niedrigen Mauervorsprung, direkt vor der Eisentür seines Heims und starrte seinem Auto hinterher. Einen Moment war Mr Steinhardt nicht klar, was er gesehen hatte – dann wandte er rasch den Kopf zurück, um noch einmal hinzuschauen. Der Junge war verschwunden.

Mr Steinhardt versuchte das aufkommende Gefühl von Verfolgungswahn zu verbannen und konzentrierte sich auf die Straße.

Während er in Richtung Autobahn fuhr, hatte er nur noch seine nächste Kundin im Sinn und wie er am schnellsten ihre Todesursache herausfinden könnte.

Luciana Bradley und der Orden des PhönixWo Geschichten leben. Entdecke jetzt