Der Brief

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Der fahle Schein des Mondes fällt auf den dunklen Flur und erhellt ihn schwach. Ich husche durch die kalten Gänge und hoffe, dass mich niemand entdeckt. Denn sonst würde ich schrecklichen Ärger bekommen. Oberin Hildegard ist sehr streng, wenn es um die Bettzeiten und die damit verbundene Nachtruhe geht. Seit sechzehn Jahren lebe ich in diesem Kloster in der Nähe von Anjou, wer meine richtigen Eltern sind weiss ich nicht. Überhaupt haben die Schwestern mir nie viel darüber erzählt, bloss, dass ich in einer stürmischen Nacht im Jahre 1744 vor die Toren des Klosters gelegt worden und dort zurück gelassen wurde.

Ich war damals ein paar Tage alt, seitdem friste ich mein Dasein in diesen kalten und trostlosen Mauern. Wie ein Schlossgespenst, nur das ich auch bei Tageslicht herumwandeln darf. Ich hetze durch die Gänge und bleibe neugierig stehen, als ich Licht sehe. Es ist das Zimmer der Oberin, sie scheint ebenfalls nicht schlafen zu können. Aber anscheinend gelten für sie andere Regeln als für die übrigen Nonnen und Novizinnen. Sie scheint nicht alleine zu sein, denn ich höre noch eine Stimme. Sie gehört jemandem der nicht im Kloster lebt und sogar zu einem Mann. Ich runzle die Stirn und lausche angestrengt um zu hören, über was die beiden reden. „Es fällt mir immer schwerer, die Last der Sünde ruht so schwer auf meinen müden Schultern.", höre ich Oberin Hildegard sagen. Der Mann pflichtet ihr mit einem eigenartigen Laut zu. Ich gehe einen Schritt näher um etwas mehr zu erkennen, die Lichtquelle ist ein Kandelaber der mit vier Kerzen bestückt wurde. Die Schatten der Kerzen wandern hin und her, sonst kann ich aber nicht viel erkennen.

„Ich verstehe. Ich verstehe all zu gut.", höre ich den Mann sagen. Über welche Last die beiden wohl sprechen? „Es vergeht kein Tag, an dem ich mir keine Vorwürfe mache. Sie war doch so eine nette junge Frau, wie konnte ich ihr so etwas schreckliches antun? Wie?" Sie steht auf, ich höre wie der hölzerne Stuhl zurück gestossen wird und ihr Umhang raschelt. „Ihr hattet keine andere Wahl, Oberin. Er hätte euch vernichtet, ihr wisst doch wie der Graf sein konnte." Das wird immer verwirrender. Welchen Graf meinen die wohl? „Ich weiss, aber es ist trotzdem eine Todsünde was ich begangen habe. Was wir vor sechzehn Jahren begangen haben." Vor sechzehn Jahren also, reden die etwa über mich? Vielleicht mag es auch nur Zufall sein, aber in diesem Kloster gibt es kein anderes Mädchen das vor sechzehn Jahren aufgenommen wurde. Der Mann geht im kleinen Zimmer der Oberin auf und ab, seine schweren Stiefel erzeugen dumpfe Geräusche.

„Ich hätte ihr nie das Kind wegnehmen und durch ein lebloses ersetzen dürfen. Das war frevelhaft von mir und ich frage mich wirklich, wie ich damit all die Jahre leben konnte. Aber ich merke einfach wie mich die Last in den Boden drückt. Der Tod naht, und ich muss meine Sünden beichten. Nur weiss ich nicht an wen ich mich sonst wenden sollte, Pater." Der Mann ist also ein Pater, wahrscheinlich aus dem nächsten, oder übernächsten Dorf. Aber was will Oberin Hildegard damit sagen, dass ich ausgetauscht wurde? Denn ich kann mir nie und nimmer vorstellen, dass sie so etwas getan haben könnte. „Aber was wollt ihr jetzt tun? Ihr wisst nicht einmal wo der Schotte und die Engländerin leben, geschweige denn ob sie euch glauben. Lasst es gut sein, das Kind weiss nichts davon und ihr solltet euch mit Gott aussöhnen, bevor er euch zu sich beruft." Ich verstehe das ganze einfach nicht, das ergibt doch alles keinen Sinn. Doch ehe ich noch weiter lauschen kann, höre ich wie sich der Pater verabschiedet. Ich setze mich in Bewegung und verstecke mich hinter einer Säule.

Die Tür wird geöffnet und das Licht der Kerzen fällt auf den Gang. Jetzt kann ich den Pater sehen, es ist Pater August. Ich habe ihn schon einmal gesehen. Das war vor ein paar Jahren im Dorf, als wir unsere selbst gemachten Bienenwachskerzen verkauft haben. „Gott segne euch.", meint die Oberin. Pater August nickt und verlässt wie ein Geist das Kloster, unbemerkt so wie er gekommen ist. Als die Tür zu ist, stehe ich ganz allein in der Dunkelheit. Doch meine Gedanken kreisen gerade nur um eine Frage, wer sind meine Eltern und vor allem haben sie mich gar nicht weggeben wollen? Auf diese Fragen habe ich keine Antworten, noch nicht. Aber ich werde alles daran setzen, sie zu bekommen. Mehr noch, wenn es wahr ist was ich gerade gehört habe, werde ich meine Eltern suchen. Und wenn ich dafür durch die Hölle gehen muss. Nachdem ich die Schlafkammer betreten und in mein Bett geschlüpft bin, habe ich mir lange noch Gedanken darüber gemacht.

Erstgeborene OUTLANDERWo Geschichten leben. Entdecke jetzt