Kapitel 9: 23. Januar 1888

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Ich weiß nicht, wo ich bin.  
Der Mann, dessen Leiche vor mir liegt, hat eine Sprache gesprochen, die ich nicht ganz verstanden habe. Es hätte Spanisch sein können, aber ich spreche Spanisch und hätte es ganz sicher verstanden. Ich könnte vielleicht in Mexiko sein. 
Kopfschüttelnd wische ich mir das Blut vom Mund und lasse meinen Blick über die Landschaft schweifen. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen. Der Schornstein des Hauses neben mir qualmt noch, obwohl die Familie darin nicht mehr lebt. Einige Hühner rennen verwirrt über den Hof und vom Stall her höre ich ein Schaf blöken. Mit einem Lächeln springe ich über die Mauer und laufe den Weg in das Bauerndorf zurück. Das Kleid, das ich mir vor einem Monat geliehen habe, hat meine Wanderung nicht lange mitgemacht. Deshalb habe ich mir ein Outfit für Männer zugelegt und meine Haare hochgesteckt, doch ich fürchte, dass sich einige Strähnen während meines Frühstücks gelöst haben.
Wie gesagt, ich weiß nicht, wo ich bin. Und ich weiß auch nicht, was ich mit dieser Wanderung erzwecken will. Mein früheres Ich ist aus New Orleans weggelaufen, aber dieses Ziel verfolge ich nicht mehr. Wenn ich Lust hätte, würde ich dorthin zurückkehren und die ganze Stadt leer trinken, wenn ich nicht wüsste, dass die Mikaelsons mich dafür bestrafen würden. Und gegen die Urvampire kommt nicht einmal eine Salvatore an.
Eine halbe Stunde später erreiche ich das Bauerndorf. Die Leute hier grüßen mich freundlich und ich lächle zurück. Sie halten mich für einen wohlhabenden Händler oder etwas dergleichen. Ich habe sie alle auf Englisch manipuliert, und in ihrem mexikanischen - nehmen wir einfach mal an, dass es das ist - Gehirn sind einige Wörter durcheinander geraten. Aber solange sie mich bei sich wohnen und ihre Umgebung austrinken lassen, soll mich das nicht stören.
Vielleicht bleibe ich noch zwei Wochen hier. Ich habe Gefallen an dem verträumten Bauernleben gefunden. Eigentlich will ich weiter nach Süden, aber ich bin ein Vampir, ich stehe unter keinem Zeitdruck.
Da spricht mich eine Frau an. "Chloé?"
Verwirrt bleibe ich stehen und schaue sie an. Ihre dunklen Augen scheinen mit ihrer braunen Haut zu verschmelzen. "Was ist?" Dass die Bauern mich Chloé nennen, liegt auch an dem Sprachenunterschied der Gedankenmanipulation.
"Ein Mann wartet auf Sie in Ihrem Haus."
"Warum sagst du mir das?"
"Der señor sagte, Sie sollen sich nicht erschrecken."
Ich runzle die Stirn. "Hat er gesagt, wie er heißt?"
"Nein, señora Chloé, aber ..." Die Frau blickt nervös über ihre Schulter. "Señora, der Mann sah böse aus."
"Danke." Ich beiße mir auf die Lippe und gehe weiter, diesmal zügiger. Ein kleiner Teil meines Bewusstseins fängt sich an zu regen, weckt Gefühle in mir... Kann es sein, dass Niklaus mich gefunden hat?
Gezielt schiebe ich diesen von mir. Und auch wenn er mich gefunden haben sollte - es ist mir egal. Alles ist mir egal.
Doch als ich in meine Hütte platze, bleibe ich geschockt stehen. Mein Besucher ist dunkelhaarig und hat dieselben Augen wie ich.
"Damon!", entfährt es mir.
Sein Halblächeln verwandelt sich zu einem Grinsen und er zieht mich in seine Arme. "Schwesterherz."
Verblüfft über die plötzliche Nähe, drücke ich ihn ein wenig weg, um ihm ins Gesicht schauen zu können. "Seit wann sprichst du Mexikanisch?"
Damon lässt mich los uns schüttelt den Kopf. "Also wirklich, Chloey, ich bin enttäuscht. Unsere Vorfahren, die Salvatores, sind doch auch keine Mexikaner. In diesem Teil des Landes wird Spanisch gesprochen, ist dir das noch nicht aufgefallen?"
Ich verschränke die Arme, um zu kontern. "Natürlich ist mir das. Nur ihr Akzent liegt mir nicht."
Ich kann ihm ansehen, dass er nahe daran ist, die Augen zu verdrehen. "Um auf deine ursprüngliche Frage zurückzukommen: Ja, ich spreche Spanisch. Aber mir bereitet viel mehr Sorgen, warum ich es überhaupt sprechen muss. Man sollte doch annehmen, wir seien im ziviliserten Mystic Falls oder dann doch zumindest im etwas weniger zivilisierten New Orleans, anstatt in irgendeinem Bauerndorf zwischen den mexikanischen Äckern."
"Ich wollte wandern", gebe ich nüchtern zurück.
"Sicher. Und dabei das halbe Land abschlachten." Ich will wiedersprechen, aber er lässt mich nicht zu Wort kommen. "Durch die vielen Mordfälle und den Gerüchten über einen 'diablo' habe ich dich nämlich erst gefunden, geschweige denn bin auf dich aufmerksam geworden. Du hast mir keine Briefe geschickt, keine Boten, nichts! Hätte ich denn ahnen können, dass du aus New Orleans verbannt worden bist?"
"Du hast mit Niklaus gesprochen?" Ich zwinge mich, einen Kloß hinunter zu schlucken. Immer, wenn sein Name fällt, droht, ein Sturm loszubrechen.
"Sprechen kann man das nicht nennen. Er hat mich in einem hohen Bogen wieder rausgeworfen. Also, was ist zwischen euch vorgefallen? Warum bist du so wütend, dass du gleich eine Zivilisation auslöschen musst?"
Nun steht er seinerseits mit verschränkten Armen da und ich weiß nicht, was ich antworten soll. Er übertreibt maßlos. Ich habe mich nur an ein paar Dörfern vergriffen, und selbst da habe ich noch Menschen am Leben gelassen ... meistens.
Entschieden schiebe ich meinen emotionalen Teil wieder ganz zurück, in die hintersten Winkel meines Bewusstseins. Ich sperre ihn zurück hinter eine dickere Tür aus Marmor, die mit schweren Eisenketten verhangen ist. Denn da gehört er hin.
"Damon." Absichtlich lasse ich meine Stimme überheblich klingen. "Kannst du deine Großer-Bruder-Gefühle nicht an Stefan auslassen und mich davon verschonen? Ich habe schon genug Probleme, auch ohne meine Familie. Lass mich einfach mein Zeug machen und vielleicht komme ich euch ja mal besuchen. Was hältst du davon?"
Sein Blick verdüstert sich. Mit wenigen Schritten überbrückt er die Distanz zwischen uns. Er packt mich an den Schultern und schüttelt mich. Wütend stoße ich ihn weg, mit so viel Kraft, dass er gegen die Wand knallt. Putz rieselt von der Decke.
"Du bist nicht du selbst!" Damon rappelt sich wieder auf und funkelt mich an. "Leg ihn um! Warum hast du das gemacht? Leg ihn wieder um. Verdammt nochmal!"
Aus irgendeinem Grund tut er mir leid. Wie er da steht und mich anbrüllt und meint, damit tatsächlich etwas bewirken zu können.
Ich setze mein reizendentes Lächeln auf. "Das ist meine Entscheidung, Bruderherz. Und ich sage, der Schalter bleibt umgelegt. Mir geht es herrlich."
Er schnaubt. "Stefan geht es auch herrlich, wenn er ein Ripper ist. Und trotzdem leidet sein Umfeld. Herrgott nochmal, bin ich denn der einzige, der diesen - Fluch nicht geerbt hat!"
"Hey, ich bin kein Ripper!"
"Nein, aber du bist auch kein Täubchen."
Daraufhin herrscht eine Weile lang Schweigen zwischen uns. Irgendwann schaffe ich es, zur Tür zu deuten. "Geh", sage ich leise zu meinem Bruder. "Geh und komm nie wieder."
Damon zögert einen Moment, doch dann geht er tatsächlich. Ich bleibe am Fenster stehen und sehe ihm zu, wie er davon geht. Ich habe meine Familie verstoßen. Und ich empfinde nichts.

SacrificiumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt