Mit meinem Ärmel wische ich mir das Blut vom Mund. Der weiße Stoff färbt sich rot, so rot, dass ich ihn verwundert anstarre. Dann betaste ich meine Mundwinkel, mein Kinn, meine Wangen, und nehme meine Hand wieder zurück. Noch mehr Blut. Verwirrt starre ich auf die Leiche unter mir, ein Massaker aus roten Spritzern. Die Kehle ist aufgerissen und das Fleisch hängt noch in Fäden runter; das ist also mein Werk.
Langsam erhebe ich mich, wankend. So bin ich nicht immer gewesen. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, da habe ich meine Zähne wie zwei Nadeln in den Hals meines Opfers gebohrt. Dabei haben sich höchstens meine Lippen rot gefärbt. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, da habe ich lediglich ein Taschentuch benötigt, um jegliche Spuren meiner Mahlzeit zu vernichten.
Kopfschüttelnd drehe ich mich um, lasse meinen Blick durch das zerstörte Wohnzimmer wandern. Das bin ich; davor habe ich mich selbst nur gut versteckt. Wie ich meine Mahlzeit zu mir nehme, sollte mich nicht bekümmern.
Das ist alles Damons Schuld. Seid er mich vor mehr als hundert Jahren besucht hat, tauchen immer wieder Gedanken in mir auf, fremde Gedanken, die nicht zu mir gehören. Er hat sie in meinen Kopf gepflanzt, ein gefährliches Gift, das mich zu ihm zurückbringen soll.
Leg ihn um! Warum hast du das gemacht? Leg ihn wieder um. Stefan geht es auch herrlich, wenn er ein Ripper ist. Herrgott nochmal, bin ich denn der einzige, der diesen Fluch nicht geerbt hat?
Geh und komm nie wieder.
Ich bekämpfe das absolut lächerliche Bedürfnisse, in Tränen auszubrechen. Zähneknirschend fühle ich in mich hinein und kontrolliere den Schalter, gehe sicher, dass er umgelegt ist. Diese Gedanken müssen verschwinden.
Im Spiegel kontrolliere ich ein letztes Mal mein Erscheinungsbild. Er hat einen Riss von dem kleinen Kampf, den ich mit meiner Beute hatte. Ich mag es, wenn mein Essen noch etwas kämpft. Dann ist es heiß und schmeckt viel besser.
Schließlich trete ich durch die Tür in den Sonnenschein. Die Aprilwärme hat den Schnee schmelzen und die Flüsse überlaufen lassen. Das hier ist eines der wenigen Dörfer, in dem ich noch Leute gefunden habe, Leute, die nicht in die Berge geflüchtet sind. Das Wasser hat sich mittlerweile wieder ins Flussbett zurückgezogen; bald werden die Dorfbewohner wieder zurückkommen und meine Hinterlassenschaft finden. Bei dem Gedanken, wie sie mit ihren Kräutern und Räucherstäbchen herumwedeln werden, um die bösen Geister zu vertreiben, muss ich lächeln. Sie sind wie die Hexen in New Orleans, mit dem Unterschied, dass sie rein gar nichts von Magie verstehen.
Lächelnd schließe ich die Augen und lasse mich in Sonnenstrahlen tauchen, während ich ziellos einen Fuß vor den anderen setze. Die Strahlen kitzeln auf meiner Nase und lassen bunte Flecken in der Schwärze hinter meinen Lidern auftauchen. Auf diese Weise ist das Leben herrlich. Ich lebe in purer Freiheit, kann machen was ich will, töten wen ich will, reden mit wem ich will. Ich muss mich nicht verstellen, damit andere Personen mich mögen. Hier draußen, irgendwo in Mittelamerika, kann ich ich selbst sein.
Jeder kann das Monster sehen, das ich bin.
Seufzend öffne ich die Augen, als Zweige meinem Kopf streicheln und Lianen meine Wangen berühren. Ich atme den Duft des Dschungels ein, nehme die Laute der Papageien in mir auf, das Trampeln der Tiere, die bei meinem Erscheinen flink in ihre Verstecke huschen. Ich kann die Trommeln eines Stamms hören, die mehrere Kilometer entfernt in der Luft beben. Von der anderen Richtung trägt der Wind das Schnurren einer Wildkatze an mein Ohr und das Miauen ihrer Säuglinge. In einem entfernten Winkel pickt ein Vogel gerade einen Wurm vom Boden auf.
Das ist das Leben. Das Leben, das ich in den letzten Monaten zu lieben gelernt habe. Um ein weiteres Mal bin ich froh, dass in meiner Vergangenheit alles so verlaufen ist, wie es ist. Um ein weiteres Mal bin ich froh, ein Vampir zu sein.
Plötzlich höre ich ein Sirren an meinem Ohr. Blitzschnell drehe ich mich um, aber da hat mich der Pfeil bereits im Hals getroffen. Verwundert wandert meine Hand zur Eintrittsstelle. Er ist klein, so lang und so dick wie mein kleiner Finger. An seinem Ende befinden sich bunte Federn. Ich hebe ihn an meine Nase und atme den Geruch ein, den die Pfeilspitze ausströmt. Erschrocken lasse ich ihn fallen.
Schlafmittel.
Die Gestalt, die auf mich zukommt, verschwimmt. Ich will die Hand ausstrecken, aber da liege ich bereits am Boden, spüre die Erde kaum noch unter mir, während meine Augen zuflattern ...
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Sacrificium
FanficFortsetzung zu "Desiderium": Der Lichtzirkel steht kurz vor einem Ritual, das Esther wiederauferstehen lässt. In New Orleans sorgen die Hexen der du feus für Unruhe. Und Klaus versteckt ein Mädchen, von dem er behauptet, es sei seine Tochter - und...