Kapitel 4 : 31. Dezember 1887

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Meine Finger zittern so sehr, dass mir der Stift aus der Hand zu rutschen droht. Ich kann nicht mehr. Ich spüre meinen Körper kaum noch. Meine Beine haben schon vor einige Zeit nachgegeben, sodass ich inmitten der weißen Landschaft knie. Eine gefallene Rose.
Nik würde einiges geben, mich so zu sehen. Erniedrigt. Mein Herz zieht sich bei der Erinnerung an seinen Namen schmerzhaft zusammen. Das verwundert mich, denn eigentlich dachte ich, ich hätte kein Herz mehr. Als er mich vor zwei Wochen aus New Orleans vertrieben hatte, da hatte es angefangen. Als ob mein Herz langsam zu Asche zermahlt werden würde.
Bilder blitzen vor meinem inneren Augen auf. Feuer. Schreiende Menschen. Blut. So viel Blut. Nein, ich will nicht daran zurückdenken. Ich kann nicht. Es ist einfach nicht möglich, dass Nik ... dass er ... mich hasst.
Ich gebe mir einen Ruck und schreibe einen Punkt hinter den Satz. In den letzten Tagen habe ich immer weniger Tagebuch geschrieben. Aber ich muss damit weiter machen, denn so habe ich wenigstens eine Sache, an der ich mich festhalten kann.
Ich zucke zusammen, als ein Knall die Luft zerreißt. Durch den Schneesturm erkenne ich bunte Farben am Himmel. Kirchenglocken stimmen mit ein. Noch ein Knall. Noch mehr Farben.
Willkommen im neuen Jahr, Chloe Salvatore, denke ich bitter. Rebekah und ich hatten Pläne für diese Nacht, wir wollten eine Party organisieren... wahrscheinlich hat sie das alleine in die Hand genommen. Sie braucht mich nicht. Wahrscheinlich denkt sie nicht einmal mehr an mich. Sie nicht und Elijah und Kol und Finn und - Zoey. Sie alle hassen mich gewiss. Und wenn ich könnte, würde ich mich selbst ebenso hassen.
Ein Schauer durchrüttelt mich so fest, dass meine Zähne klappern. Das ist einfach lächerlich. Ein Vampir friert nicht. Und doch schaffe ich es irgendwie, inmitten eines Kältetodes zu stecken. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich kein Herz mehr habe, das mich wärmt. Das hat mir Niklaus aus der Brust gerissen, es zu Asche zermahlen, und das langsame Schlagen, das ich in meiner Brust spüre, ist nur eine Illusion.
Ich liebe ihn noch, aber er liebt mich nicht mehr. Niemand liebt mich mehr. Selbst meine Brüder würden mich nicht mehr lieben, wenn sie wüssten, was ich getan habe. Obwohl ich doch nur das Beste für mein Kind wollte.
Nein, es tut zu sehr weh, daran zu denken. Ich wünschte, ich würde gar nichts mehr fühlen. Dann würde ich die Kälte des Wetters nicht mehr spüren und auch die Leere in mir wäre egal. Ich könnte wieder glücklich sein, mein unsterbliches Leben genießen, eine neue Liebe finden. Ich könnte New Orleans genauso vergessen wie es mich vergessen hat.
Ich atme tief ein. Mir ist nur allzu klar, was ich im Begriff bin zu tun. Das hält mich nicht auf. Entschlossen lege ich diesen Schalter in meinem tiefsten Inneren um. Langsam macht sich ein taubes Gefühl in mir breit. Es ist etwas ganz anderes als die Taubheit der Kälte. Ich begrüße das Gefühl, das mich umhüllt wie eine warme Decke.

Mit neuer Kraft wuchte ich mich auf und klopfe mir Schnee von der Kleidung. Was ich da trage ist völlig nass und dreckig. Achtlos stopfe ich das Tagebuch in meine Rocktasche und halte die Nase in die Luft. Ich kann mir nicht erklären, warum ich so lange dort gekniet bin. Meinem Zeitgefühl nach zu urteilen, müssen Stunden vergangen sein, seit ich mich dort niedergelassen habe. Bin ich mit Emotionen denn wirklich so verweichlicht, dass ich mir eines Mannes wegen das Leben schwer mache? Dass ich nicht lache.
Da. Der Duft, auf den ich gewartet habe, steigt mir in die Nase. Durch den Schneesturm ist es schwer, ihn richtig zu identifizieren, aber ich bin so hungrig, dass es mir egal ist. Hauptsache, dort gibt es so viele Menschen, dass ich den Hunger, den ich in den vergangenen Wochen angesammelt habe, ein für alle Mal stillen kann. Und neue Kleidung brauche ich auch noch.
Mit einem breiten Grinsen flitze ich durch den Schnee.

SacrificiumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt