Kapitel 26

1.1K 32 0
                                    

Sie kam um 10 Uhr morgens. Wach wurde ich durch das Klingeln an der Tür und die Stimmen, die von unten herauf klangen. Ich steckte den Kopf unter meinen Polster und wartete ab. Dann hörte ich auch schon die unverkennbar geschmeidigen Schritte von Jenny auf der Treppe.

Es klopfte leise an der Tür und obwohl ich keine Antwort gab, trat sie ein. Ich roch ihr Parfüm schon als sie nur unschlüssig an der Tür stand und nicht wusste was tun. Als sie zaghafte Schritte auf mich zu machte, zog ich mir den Polster vom Kopf und starrte sie an. Sie lächelte vorsichtig. "Hey."

Ich sagte nichts, sondern brach in Tränen aus. Jenny überbrückte den letzten Abstand und schloss mich in ihre Arme. Ihr Haar roch nach Shampoo und kitzelte mich an der Wange, aber das störte mich nicht. Als ich mich langsam wieder beruhigt hatte, lösten wir uns von einander. Ich schlug die Bettdecke weg und saß nun nur noch in einem übergroßen T-shirt meines Vaters und langen Kuschelsocken vor ihr. Ich starrte auf meine Hände. "Was genau hat er dir erzählt?"

Jenny seufzte und setzte sich neben mich auf die Bettkante. "Nicht viel. Nur, dass ihr euch getrennt habt."

Ich blickte auf in ihre dunklen Augen und ein trauriges Lachen entfuhr mir. "Klar."

"Lou..."

"Hat er dir gesagt, du sollst kommen?"

Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Ich hab mir Sorgen gemacht. Weil.." Sie stockte. "Ich hab ihn Samstag getroffen. Ich war gerade bei Scott, als er aufgetaucht ist. Er war ziemlich fertig." Sie fuhr sich durch das lange Haar und seufzte. "Er hat sogar geheult. Aber er hat uns wirklich nicht erzählt was los war. Also warum ihr euch getrennt habt."

Ich schüttelte den Kopf und holte tief Luft. "Okay, aber er hat sich von mir getrennt. Er hat Schluss gemacht."

"W-was? Und wieso?" 

Ich versuchte den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken, was natürlich nicht funktionierte. Mein Blick fiel auf mein linkes Bein. Die blauen Stricksocken verdeckten all die Narben.

"Deshalb?" Jenny war meinem Blick gefolgt und musterte mich nachdenklich.

"Was meinst du?"

"Es ist wegen deinem Geheimnis, nicht wahr?" Sie nickte zustimmend. "Du hast es ihm also immer noch nicht erzählt."

"Welches Geheimnis?"

Sie seufzte. "Deine Vergangenheit. Dein Bein, dein Umzug, dass du so verschlossen bist.. Ach, ich weiß doch auch nicht. Ich weiß nur, dass du niemandem davon erzählt hast."

Ich biss mir auf die Unterlippe, bis ich Blut schmeckte. Schnell leckte ich darüber und zog mein T-shirt etwas nach unten. "Ist doch auch egal. Vergangen ist vergangen, oder etwa nicht?"

Jenny zuckte mit den Schultern und zog eine nachdenkliche Schnute. "Vermutlich. Aber es ist es denn nicht so, dass die Vergangenheit uns ausmacht? Wenn du einen Menschen kennst, aber seine Vergangenheit nicht, ist es dann nicht so, dass du ihn gar nicht wirklich kennst?"

"Also, ich weiß nicht.."

"Doch klar." Sie rutschte näher heran und legte mir eine Hand auf den Arm. "Sie es mal so. Die Vergangenheit prägt uns. Jeder einzelne Schritt, den wir jemals gemacht haben, bestimmt unser Leben... zumindest irgendwie. Und sie macht uns eben zu dem Menschen, der wir heute sind. Wären mein Eltern damals nicht gestorben.. Ich weiß nicht, was anders wäre. Aber eines weiß ich, die Menschen, die nichts von meiner Vergangenheit wissen, können mich gar nicht verstehen. Ich habe ihnen nie die Chance dazu gegeben. Und so ähnlich ist das auch bei Theo und dir."

Verwirrt schüttelte ich den Kopf. "Aber das ist doch wohl etwas anderes."

"Nein, ist es nicht. Was auch immer in Kanada passiert ist, hat dich geprägt und es gehört nun eben zu dir. Also versteck es nicht vor den Personen, die dich wirklich verstehen wollen. Dazu gehören auch Kathy und Scott, Tim und ebenso ich. Wir lieben dich und wir wollen dir helfen und all das, was Freunde eben so machen. Aber wie könnten wir, wenn wir doch nicht einmal wissen was dir fehlt?"

Ich schnaubte. "Mir fehlt doch überhaupt nichts."

Jenny seufzte frustriert und drehte sich von mir weg. Sie starrte auf die weiße Kommode am anderen Ende des Raumes. "Lou, wir alle wissen, dass irgendetwas schreckliches in deiner Vergangenheit passiert sein muss. Du bist immer so still, so in dich gekehrt und oft auch abwesend. Du denkst ständig nach und... Dein Bein. Du hast die Krücke doch schon so lange..."

"Jenny, das ist echt nicht von Bedeutung..."

"Wie kannst du so etwas sagen? Wie kannst du mir so ins Gesicht lügen? Glaubst du wirklich, ich merke nicht, dass dich irgendetwas quält? Aber du stößt mich ständig weg und genauso alle anderen.Es tut weh, wenn du uns ständig anlügst. Du kannst deine Vergangenheit nicht ewig verheimlichen. Du musst uns vertrauen, verstehst du das denn nicht?"

Dann war ich erstmal sprachlos. Klar, sie hatte Recht. Aber.. Wollte ich wirklich, dass jeder mit mir Mitleid hatte? Das würde ich nicht aushalten. "Doch schon. Aber ich kann es einfach nicht ertragen.. Wenn mich jemand bemitleidet. Wenn ich nicht für eine vollständige Person gehalten werde."

Jenny lächelte sanft. "Mitleid kommt nur auf, wenn du dich als Opfer gibst."

Ich stieß einen langen Seufzer aus und lehnte meinen Kopf an den Polster, sodass ich an die Decke sah. "Du hast Recht. Wie eigentlich immer. Aber auch wenn schon.. Mit Theo hab ich es versaut."

Sie lachte leise. "Nein, Lou. Mit ihm hast du es dir noch lange nicht versaut. Er liebt dich."

Ich lächelte leicht und stupste sie an der Schulter an. "Danke, Jenny. Aber ich glaub, ich schaff es nicht darüber zu reden."

"Natürlich schaffst du das. Es ist wie wenn man ein Pflaster abreißt: Erst tut es weh und dann ist es vorbei." Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Ich musste es auch tun. Bei Scott, Theo und all den anderen. Und ich hab es geschafft. Also schaffst du es auch."

"Danke." Ein kleines Lächeln bildete sich auf meinen Lippen. 

Sie lachte und hüpfte leicht auf und ab. "Du wirst mit ihm reden, nicht wahr?"

"Ja." Auch wenn mir der Gedanke große Angst machte, wusste ich, dass Jenny recht hatte. Der Unfall gehörte nun mal zu meinem Leben dazu und er machte mich zu der Person, die ich war. Ohne Wissen über meine Vergangenheit, konnten mich die anderen Personen gar nicht wirklich verstehen. Und es war falsch von mir sie alle ständig wegzustoßen, sie wollten mir bloß helfen. 

Jenny blieb noch den ganzen Tag. Wir aßen Weihnachtskekse und schauten uns einen Film an. Wir plauderten über die Ferien und über alles, nur nicht über mein Geheimnis. Es war schön an was anderes zu denken. 

Als ich mich schließlich von ihr verabschiedete, musste ich ihr versprechen am nächsten Tag mit Theo zu reden. Und das wollte ich auch tun.

EisprinzessinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt