Kapitel 6

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Es war ziemlich stickig und war total dunkel in der Wohnung. Anscheinend hatte hier seit Wochen keiner mehr gelüftet. Langsam ging ich durch den Flur, von dem sich die einzelnen Räume abtrennten. Erst warf ich einen Blick ins Bad. Mal abgesehen davon, dass es ziemlich schmutzig war, entdeckte ich viele Blutflecken an der Wand und am Boden. Aber sonst war da niemand. Ich ging also weiter.

Die anderen Räume sahen alle fast genauso aus und ich spürte, wie mir etwas schlecht wurde. Als ich dann in der Küche war, entdeckte ich noch eine Spritze, die blutig und dreckig neben der Spüle lag.

Jetzt war mir wirklich schlecht. Ich war kurz davor, vor Ekel wieder zu gehen, als ich ein Geräusch hörte. Schnell drehte ich mich um und sah Alexander.

Etwas erleichtert und gleichzeitig hundert Mal angespannter als ohnehin schon lief ich durch den Flur ins gegenüberliegende Wohnzimmer. Dort lag er auf einem alten, ranzigen Sofa. Er murmelte leise etwas total Unverständliches und hatte die Augen dabei geschlossen.

Bei ihm angekommen hockte ich mich neben ihn und versuchte ihn wach zu kriegen.

„Alexander?", fragte ich.

„Alexander!", rief ich nun viel mehr.

Er hatte aufgehört zu murmeln. Genau in diesem Moment bemerkte ich, dass er auch anscheinend nicht atmete, da seine Brust sich nicht hob und sank.

Ich bekam Panik.

„Alexander!", brüllte ich verzweifelt.

Ich war noch nie in so einer Situation gewesen und hatte keinen Plan, was ich tun sollte.

Ich rüttelte an ihm, doch nichts passierte. Gerade als ich mir die Ärmel hochkrempelte um erste Hilfe zu leisten, begann er plötzlich zu husten. Als dies dann aufgehört hatte, atmete er wieder. Ich war total überfordert und versuchte, ihn weiter wach zu kriegen.

Nachdem ich noch ein bisschen an ihm herumgerüttelt hatte, öffnete er die Augen. Ich war wirklich froh seine lebendigen, wenn auch riesigen Pupillen zu sehen. Er sah mich stumm an und grunzte dann leise. Total verwirrt sah ich ihn an.

„Ich glaube, jetzt verfolgst du wohl mich.", meinte er, kurz davor wieder einzuschlafen.

„Ey, wir müssen hier raus! Ich dachte, du stirbst gleich.", rief ich ernst.

Er antwortete nicht, sondern sah mich einfach nur an. Ich stand wieder auf, und versuchte auch ihn ein Stück hoch zu hieven. Glücklicherweise, half er mit und stand so gut wie selbstständig auf.

„Wir sollten echt gehen, das ist hier nicht gesund.", sagte ich meine Übelkeit unterdrückend.

Alexander folgte mir mit einer Ruhe, die mich etwas beängstige. Ich schliff ihn durch das Treppenhaus, bis nach draußen.

Dort angekommen streckte er sich kurz und holte dann kleine, bunte Tabletten aus seiner Tasche.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder was?", fragte ich ihn.

„Ich brauch das, um bisschen wach zu werden. Außerdem fängt das von eben eh gleich erst an zu wirken.", antwortete er völlig gelassen.

Jetzt war bei mir jeder Versuch, nicht zu kotzen, vorbei und ich übergab mich in einen Busch neben dem Haus. Glücklicherweise steckte er die Tabletten erstmal wieder ein.

„Alles klar?", fragte Alexander und legte mir eine Hand über die Schulter.

„Alles bestens.", meinte ich, „Ich bin nur nicht sehr vertraut mit bakteriellen Spritzen und Fixerwohnungen."

Krampfhaft probierte ich an was Schönes zu denken. Nachdem ich mich etwas gefasst hatte, richtete ich mich wieder auf und drehte mich um zu Alexander.

„Na dann, geh ich mal wieder rein", meinte er in einem wahnsinnig ruhigen, aber ernsten Ton.

„Du bist voll mit irgendwelchem Zeug und willst jetzt wieder in diese Bruchbude gehen? NEIN!", rief ich entschlossen.

„Hast du vergessen? Wir sind quitt.", wechselte er das Thema mit Blick auf die Merci Schokolade, die ich immer noch in der Hand trug.

Unschlüssig stand ich da und sah ihn nervös an.

„Also ich dachte...", begann ich.

Doch Alexander winkte ab, murmelte irgendwas von wegen „endgültig quitt" und verschwand wieder im Hauseingang.

Es blieb mir also nichts anderes übrig, als aufzuhören ihm hinterherzulaufen und nach Hause zu gehen.

Er hatte es ja so gewollt.

Ich wand mich ab und ging mit schnellen Schritten davon. Mittlerweile war es dunkel, und 11 Uhr abends. Mein Magen knurrte im Laufen und ich entschied nochmal bei Subway vorbei zu gehen. Seit dem Apfel heute Mittag hatte ich nichts mehr gehabt, weshalb ich mich für ein großes Sandwich mit Schinken entschied. Vielleicht würde ja gleich etwas für den nächsten Tag über bleiben. Mit dem eingepackten Essen machte ich mich, in der Hoffnung, dass meine Mutter schon längst weg wäre, wieder nach Hause.

Ich nahm also, wie fast immer seit einer Woche die kleine Abkürzung über den Bahnhof. Es waren kaum noch Menschen zu sehen und ich beeilte mich, die unteren Gleise zu passieren. Gerade als ich die Treppe herunter kam, sah ich einen Jungen in Lederjacke mit dem Gesicht zur Wand stehen, die Hände daran abstützend und schnell atmend. Als ich etwas näher kam erkannte ich natürlich, wie sollte es auch anders sein, Alexander.

Der müsste wirklich denken, dass ich ihn stalkte. Ich beschloss ihn nicht anzusprechen und unauffällig vorbei zu gehen. Doch in diesem Moment hatte er mich schon an meinen Schritten gehört und längst gesehen. Ich ging nur noch wenige Meter entfernt von ihm, obwohl ich schon einen Bogen um ihn machte.

Ich wusste nicht, was er eingeworfen hatte, aber vor 20 Minuten sah er noch um einiges lebendiger aus. Anscheinend hatte sein dämlicher Trip nun angefangen zu wirken.

Er sah mich an, worauf ich meinen Blick schnell abwand, um weiterzulaufen.

Ich sollte einfach schnell nach Hause gehen und dann auch schlafen.

„Viola, warte!", hörte ich ihn sagen. Kaum lauter als ein Flüstern, aber da ich im Hinterkopf so auf ihn fixiert war, hielt ich sofort an.

„Was ist los?", fragte ich, während ich vorsichtig zu ihm hinging.

„Ich weiß es nicht. Es ist irgendwie stärker.", keuchte er.

Ich spürte, wie mein Körper das von der Situation eben übriggebliebene Adrenalin ausschüttete und ich mich anspannte.

„Setz dich erstmal hin.", meinte ich.

Ich schätzte, es war das erste Mal, dass er ohne Widerspruch tat, was ich sagte. Es musste ihm wohl wirklich nicht gut gehen.

Er saß nun mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf dem Boden und sah mich mit roten Augen an. Es war fast so wie am Tag des Schulausflugs, nur dass es da nicht mitten in der Nacht gewesen war.

Schnell kniete ich mich neben ihn und stellte die Tüte mit dem Essen unter eine Bank neben uns.

Alexanders Augen waren kurz davor zuzufallen, als ich mich wieder zu ihm drehte.

„Alexander nein! Du darfst jetzt nicht einschlafen.", sagte ich hektisch rüttelte an ihm.

„Scheiß unreines Dope...", murmelte er noch, bevor er die Augen schloss.

„Nein!", rief ich, doch er war so nicht mehr wach zu bekommen.

Take my pain awayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt