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WIDMUNG
Für Ricci
Erinnere dich an unsere komplizierte Mindmap auf der Tafel und die vielen Gespräche auf dem Sportplatz über Logikfehler
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Es gab genau eine Erinnerung, die mein ganzes Leben von dem schicksalshaften Moment an prägte.
Diese eine, gottverdammte Erinnerung. Ich hätte bei Anbruch des folgenschweren Tages am 17. Juni nie gedacht, dass ich fortan jeder meiner freien Nächte schlaflos auf meiner billigen Schaumstoffmatratze liegend verbringen würde. Mit dieser tiefen, unstillbaren Wut in mir, die drohte, wie kochender Schaum jählings an die Oberfläche zu brechen. Das Gefühl war dominant. Gefährlich. Doch je mehr es stückchenweise von mir einnahm, desto weniger dachte ich darüber nach, was gewesen wäre, wenn. Wenn ich sie nie getroffen hätte.
Sie war die leise Misere auf Zehenspitzen; sie hatte meinen Kopf, mein Heim, mein Leben ganz ohne Aufforderung betreten und das dort Vorgefundene mit einem Stempel der ganz anderen Art zurückgelassen: einem unsichtbaren Verfallsdatum, das nicht nur mir immer näher rückte.
Ich konnte noch heute ein exaktes Kopfkino der damaligen Geschehnisse auf Knopfdruck heraufbeschwören, wenn ich vor dem Sonnenaufgang in nichts als milchfarbener Haut gelkeidet auf der Terasse stand und mir mit halbem Ohr belanglose Sprachnachrichten in Dauerschleife anhörte. Es waren gerade die winzigen Details, wie das elektrische Summen des Kühlschranks oder der Geruch von meinem eigenen Schweiß, die mir im Gedächtnis geblieben waren.
Schon als ich mich an dem kühlen Montagnachmittag unserem bescheiden angelegten Vorgarten näherte, spürte ein Teil meiner selbst, dass etwas aus dem straffen Rahmen unserer Gewohnheiten gerutscht war. Ganz sachte, ganz unbemerkt. Es brannte kein einziges Licht im Haus. Es war Montag. Ein Tag, an dem meine Mutter das Kochen übernahm. Gestern hatte ich gekocht. Warum brannte kein Licht in der Küche? Ich versuchte, mich selbst zu beruhigen. Vielleicht war sie krank. Eine einfache Erkältung würde sie schon ans Bett binden. An Margarets Geburtstag war sie auch erkältet gewesen und wir waren nicht in ihr Stadtviertel gefahren. Oder sie hatte wieder einmal zu tief ins Glas geschaut. Bei dem Gedanken daran breitete sich ein abgestandener Geschmack auf meiner Zunge aus. Niemand - am allerwenigsten ich - hatte erwartet, dass meine sanftmütige Mutter eines Tages ausgerechnet in den Fußstapfen meines chauvinistischen Stiefvaters treten würde. Doch es war passiert. Jeden Tag, wenn ich von der Schule nach Hause kam, verdickte das süße Aroma des Alkohols die Luft in unseren vier Wänden. Carlsberg, Tesco Bier, Greene King, Jack Daniels, Garnet, Bacardi, Hennessy und manchmal kam sie sogar mit einem Bordeaux nach Hause, denn warum nicht, wenn man es sich leisten konnte? Wir hätten der londoner Mittelschicht angehören können, wenn sie das verdiente Geld nicht für die Spirituosen aus dem kleinen Supermarkt hinter der Jesuitenkirche ausgegeben hätte.
Als meine Mutter vor einem halben Jahr einen Schlaganfall bekam, schwor ich stumm, nie Alkohol zu trinken. Nie. Es hatte gereicht, tagtäglich davon Zeuge zu werden, wie dieses Gift, das sich jede naive Seele für drei armselige Pounds einflößen konnte, den scharfsinnigen Verstand meiner Mutter vernebelte. Wie sie langsam, aber sicher, ihre Ambitionen, Ziele und Träume in einer aasigen Alkoholbrühe ersäufte. Mit jedem Schluck, der einen Weg in ihren Körper fand. Hatte ich mein Versprechen halten können? Ich gab mein Bestes.
Bald erreichte ich unsere Haustür und blieb auf der ausgefransten Fußmatte stehen, um den richtigen Schlüssel aus meiner Hosentasche zu kramen. Ich zögerte kurz, bevor ich ihn in das Schloss gleiten ließ und aufschloss. Die Tür schwang mit einem leisen Klicken des Innenmechanismus' auf. Ein eiskalter Schauer jagte mir fast postwendend über den Rücken, denn alles, was mich Zuhause willkommen hieß, waren schrecklich laute Grabesstille und uneingeladene Kälte. Ich trat über die Holzschwelle, während ich nur das hektische Pochen meines Herzens in den Ohren hatte. Es kam mir so durchdringend vor. So unglaublich durchdringend. Jeder einzelnde Herzschlag war ein Hieb gegen meine Magengrube.
Ich wollte ihren Namen rufen, doch ich traute mich nicht. Meine Zunge fühlte sich an wie Sandpapier, sie klebte trocken an meinem Gaumen, und als ich meinen Mund öffnete, drang kein einziger Ton heraus. Sei kein Mädchen. Sei kein verdammtes Mädchen. Sei mein Sohn, du Waschlappen! Ein Peitschenknall hallte in der verzerrten Dimension meiner Erinnerungen wider. Ich konnte das längst vergangene Brennen meiner aufgerissenen Haut spüren. Das heiße, fast beruhigende Blut, das meinen geschundenen Rücken hinunterfließt. Meine schweren Atemzüge. Den warmen Speichel in meinem Mundwinkel. Den dichten Tränenschleier, der meine Augen von dem flirrenden Rest der Welt trennt. Du weißt doch, dass Papa dich liebt, mein Sohn. Papa liebt dich, hörst du? Seine vom Rauchen raue Stimme lässt mich zusammenzucken. Vorsichtig drehe ich mich zu ihm um. Ignoriere meine Haut, die bei dieser Bewegung in Flammen steht. Ringe um Gleichgewicht. Versuche krampfhaft, der Bewusstlosigkeit zu entrinnen. Papa liebt mich. Natürlich tut er das. Doch Papa lächelt nicht. Ich habe es dir gesagt. Es ist nur ein Flüstern. Du hast mich enttäuscht. Wie oft habe ich es dir gesagt? Männer weinen nicht. Meine Unterlippe bebt. Ich hatte ihn enttäuscht. Schon wieder. Ich kann meinen salzgetränkten Tränenfluss nicht zurückhalten. Ich will ihm sagen, dass es mir leidtut. Ich will ein Mann nach seinen Vorstellungen sein. Keine Angst, mein Junge. Er vergibt mir. Papa liebt mich. Ich lächle unter Tränen. Keine Angst. Ich tue nur das Nötige. Langsames Begreifen. Das Verglimmen meiner Erleichterung. Ein weiterer Peitschenknall.
Bittersüße Erinnerungen an meinen verstorbenen Stiefvater überschwemmten meinen Verstand. Papa liebte mich. Das hatte ich mir anno oft eingeredet. Ich fragte mich, warum er mir genau jetzt in den Sinn kam.
Als ich tief einatmete, stieg ein scharfer Geruch in meine Nase. Es war nicht mit einer Alkoholfahne zu vergleichen. Was ich roch, waren menschliche Exkremente. Mein Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen. Es war nicht Ekel, das zuseiten dieser Feststellung weilte - es war rohe Furcht. Sei nicht feige, sagte ich mir selbst. Das war das einzige Gute, das mein Vater mir mit seiner streng autoritären Erziehung gelehrt hatte. Mit den entschlossenen Schritten eines Amateurs lief ich an der Küche vorbei. Sie war nicht vor dem zweiflammigen Herd stehend vorzufinden. Tatsächlich sah das Haus so aus wie immer: überall lagen vergessene Magazine aus der Wintersaison und leere Bierflaschen sammelten sich neben unseren dunklen Möbelstücken. Die moosgrüne Farbe an den vernachlässigten Wänden bröckelte langsam ab und die Glühbirnen baumelten teilnahmslos von der niedrigen Decke. Manche Ecken der Decke hatten sich braun verfärbt, da oft Wasser heruntertropfte. Das Haus blutet, schau mal!, hatte Papa mir ab und zu gesagt, wenn es eins seiner guten Tage gewesen war und er sein gelbes Ungeheuerlächeln als Assessor getragen hatte. Ich hatte schonmal versucht, den Leitungswasserschaden genauer zu untersuchen, doch meine Mutter hatte mich angeschrien, dass das die Arbeit meines Vaters sei. Ich erinnerte sie nie daran, dass Papa vor fünf Jahren ertrunken ist. Auch erwähnte ich in ihrer Gegenwart nie, dass das Schicksal meiner Meinung nach einen guten Sinn für Humor hatte. Oder überhaupt in der Gegenwart eines Menschen. Und sie tat noch immer so, als wäre er hier. Sie wusch seine Kleider, legte sie ordentlich gefaltet auf seine Seite des Doppelbettes und kochte ihm jeden Tag zwei Eier, die sie dann neben seine neue Zeitung auf unseren Frühstückstisch legte. Außenstehende meinten, sie sei verrückt. Ich wusste, sie war traurig.
Am 17. Juni hätte alles normal sein können. Doch etwas war anders und damit war alles anders. Es lag etwas Bitteres, Böses in der Luft. Das Böse suchte uns alle heim. Manchmal früher, manchmal später. Als ich in das Schlafzimmer meiner Mutter trat, wurde mir klar, dass heute mein besonderer Tag war. Der Tag, an dem das Böse mich heimsuchte.
Mutter lächelte friedlich, die matten Augen auf mich gerichtet. Ihre Füße hingen in der Luft. Ein Seil war um ihren Hals gebunden. Mutter war tot.
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Das ist das erste Buch, das ich auf Wattpad schreibe und ich bin wirklich gespannt (und nervös XD), ob Leute das lesen werden. Wenn ich mit dem Schreiben dieser Geschichte fertig bin, werde ich sie auch noch ins Englische übersetzen.
Falls ihr weitere Kapitel lesen wollt, pls vote
Danke!
Xx, L.
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Rabensammler
Mystery / Thriller"Wie witzig, dass ich dich hundert Mal umbringen kann, ohne dir dabei ein einziges Haar zu krümmen. Du darfst anfangen zu zählen." Kurz nachdem ein Mädchen in einem verschlafenen Städtchen in England brutal ermordet wird, herrscht Angst und Unruhe i...