Henry war sichtlich überrascht, mich nach der Schule in Hels Begleitung zu sehen. Er saß schon in seinem Auto und hatte eine Hand auf das Lenkrad gelegt.
"Wie verdiene ich diese Ehre?", fragte er auch sofort. Und obwohl seine Worte spielhaft klangen, lag in seinen Augen Besorgnis, als er mich ansah. Es war nicht nur Besorgnis, sondern auch Unsicherheit. Ich sah ganz genau, wie sein Kehlkopf vor Nervosität einen Hüpfer machte.
Während Helena ihn warm anlächelte, beschloss ich, ihn etwas zappeln zu lassen. Er brach den Augenkontakt nicht und ich wusste auch, warum - er brauchte meine Verzeihung. Ich war noch nicht bereit, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Die Vergebung wäre eine Lüge gewesen.
"Hast du heute Zeit oder haben deine Eltern wieder Besuch von irgendeinem stinkreichen Firmenbesitzer?", erkundigte sich Hel und trommelte mit ihren langen Nägeln auf die glänzende Autotür. Bei dem Geräusch jagte ein Schauer über meinen Rücken, obwohl ich für solche Sachen sonst nie empfindlich war.
Henry fuhr sich durch die dichten Haare und blies Luft aus. "Hm, ich bin mir ziemlich sicher, dass heute kein Businessabendessen eingeplant ist", meinte er schließlich. "Warum?"
"Wir hatten die Idee, heute abend ein bisschen melancholich zu werden", erklärte ich und umrundete das Auto, um trotz fehlender Aufforderung auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen.
Henry zog die Augenbrauen unüberzeugt hoch. "Melancholisch? Sind euch die aktuellen Ereignisse nicht schon depressiv genug?"
Hel machte es sich auf der Rückbank bequem und steckte schließlich den Kopf nach vorne. "Wir dachten eigentlich an Supernatural. Als Ablenkung sozusagen. Um diese Situation... etwas aufzulockern."
Ich lächelte nun auch vage, da ich die offensichtliche Veränderung in Henrys Gesicht zum Positiven gesehen hatte. Es fühlte sich fast an, als ob es nichts zwischen uns dreien gäbe, was die Freundschaft zerstören könnte.
"Supernatural? Nicht schlecht", gab Henry zu und fuhr mit dem Zeigefinger die Linien auf der Kupplung nach. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie er mit genau diesem Zeigefinger Kreise auf die Innenseite meiner Oberschenkel gemalt hatte. Das schlimmste an dieser Erinnerung war, dass das dazugehörige Gefühl weder als schlecht oder gut abgestempelt werden konnte. Aber wenn ich weiterdachte und seinen heißen Atem an meinem Ohr spürte und hörte, wie er den Namen eines anderen Mädchens flüsterte - dann fühlte ich die Verlegenheit, die Scham. Dass er nicht an mich gedacht hatte.
Ich platzierte meine Tasche zwischen meinen Beinen und legte meine Hände in meinen Schoß. "Was sagst du?"
Henry befeuchtete seine Unterlippe und seine Augenbrauen zogen sich erneut zusammen. "Es hört sich gut an. Wahrscheinlich wird es auch dir gut tun, Kat. Die Sache mit Chiara muss für dich wirklich hart sein. Erinnert es dich an...?" Er ließ den Satz in der Luft hängen, was eine gute Entscheidung war. Die Frage versetzte mir einen Stich, ich war jedoch bereit, ehrlich zu antworten. Es gab ja schließlich einen Grund, warum Henry zu den wenigen Leuten gehörte, die überhaupt von meiner Schwester Bescheid wussten.
"Schon. Nicht alles, da es im Grunde genommen etwas völlig anderes ist. Aber die Polizisten und einfach die Tatsache, dass ein Mädchen gestorben ist", sagte ich leise und schluckte.
"Es tut mir so leid, Kätzchen. Lass uns über etwas anderes reden", seufzte Hel.
"Ja, zum Beispiel darüber, dass ihr zwei noch keine Einladung von mir bekommen habt und trotzdem wie selbstverständlich in meinem Auto sitzt", schnaubte Henry.
Der Schulparkplatz leerte sich langsam, jetzt waren nur noch einige Pärchen und Lehrer zu entdecken. Ich wollte so schnell wie möglich von hier weg kommen. Das ganze Schulgebäude schien etwas Düsteres auszustrahlen, und der Nebel, der eins der Markenzeichen St Asaphs war, machte das Gesamtbild nur noch schlimmer.
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Rabensammler
Mystery / Thriller"Wie witzig, dass ich dich hundert Mal umbringen kann, ohne dir dabei ein einziges Haar zu krümmen. Du darfst anfangen zu zählen." Kurz nachdem ein Mädchen in einem verschlafenen Städtchen in England brutal ermordet wird, herrscht Angst und Unruhe i...