Kapitel 18

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"Warum bist du angezogen?", fragte Bo sofort, als ich mitsamt Jacke, Stiefeln, Schal und Mütze den Kopf durch den Türspalt der Bibliothek steckte. Er hatte mit geschlossenen Augen auf dem Sofa gelegen - man hätte denken können, dass er schläft, wären da nicht die gerunzelte Stirn und das angespannte Mahlen seines Kiefers gewesen.

"Ich gehe zu Ana. Wahrscheinlich komme ich erst spät nach Hause, aber mach dir keine Sorgen - jemand wird mich schon wie letztens nach Hause fahren. In der Küche steht eine große Kanne Tee, trink es, bevor es kalt wird", meinte ich. Mein warmer Atem sammelte sich hinter dem Schal um meinen Hals, der das Sprechen etwas schwierig machte. Ich wollte so schnell wie möglich dieses Haus durch die Eingangstür hinter mich lassen, da ich jetzt schon spürte, wie mir unter der Jacke warm wurde. Vorallem hier bei den zahlreichen mit Tinte bedruckten Papierstapeln zwischen Kartondeckeln - der Raum wurde besonders geheizt, weil es sich so besser las.

Dads Gesicht verdüsterte sich schlagartig. "Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Ich würde lieber wissen wollen, dass du Zuhause in Sicherheit bist und dich etwas ausruhst. Es ging dir doch heute schlecht."

Seine Antwort überraschte mich kein bisschen. "Du tust ja so, als ob das Gleichgewicht der Stadt vollkommen durcheinander gebracht worden ist", bemerkte ich zurückhaltend, "Aber du hast selbst gesagt, dass solche Dinge öfters passieren, als man annehmen würde. Ich brauche diese Ablenkung. Dringend. Diese... ganze Stimmung hier - ich muss raus."

Dad blickte mich einige Sekunden schweigend an - ich war kurz davor, aus dem Zimmer zu gehen - und verkündete schließlich: "Du darfst bis sechs Uhr deinen Interessen nachgehen, abet dann reicht es auch. Hörst du? Sechs Uhr."

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte; dass wir beide noch die Illusion am Leben erhielten, dass ich seine Erlaubnis brauchte. Sein Wort hatte schon lange keinen richtigen Wert für mich. Vielleicht, weil wir nach dem Unfall die Rollen kurzzeitig getauscht hatten.

"Tee ist in der Küche", wiederholte ich und schloss die Tür hinter mir. Ich eilte die schmalen Treppenstufen hinunter und erblickte Ana, die still vor der Tür stand.

Ich griff nach meiner Tasche auf dem Boden und suchte die Hausschlüssel. Sobald ich fündig wurde, konnten wir aus dem Haus und die Tür hinter uns ins Schloss fallen lassen.

"Welchen See hattet ihr im Sinn?", fragte ich und schob meine Hände in meine Jackentaschen. Für eine Sekunde hatte ich tatsächlich Angst, einen Zettel zu erstasten. Aber dort waren nur Krümmel.

"Es gibt einen, der nicht so weit weg von unserem Haus liegt. Er ist zwar nicht sonderlich beeindruckend, aber zum Baden geeignet. Manchmal haut Cake ab, und nach einem ganzen Tag finden wir ihn dort wieder. Im Sommer beendet er so einige Entenleben", murmelte sie. Das hätte sicherlich witzig klingen sollen, aber momentan war ich nicht für schwarzen Humor zu begeistern - auch Anas dünnes Lächeln wirkte eher wie eine Grimasse. Komisch, ich kannte dieses Mädchen schon so lange und erfuhr erst jetzt, dass sie so... so abenteuerlustig war. Dass sie jemand wäre, der in einem eiskalten See im Herbst schwimmen geht. Nicht mal ich war jemand, der auf solche Ideen kam. Nein... Cat wäre auf solche Ideen gekommen.

"Und warum findet es Cal klug, sich einen Kälteschock zu holen?", fragte ich und versuchte es mit einem Lächeln.

Ana zog die Schultern hoch, wobei ein Ende des Schals von ihrer Schulter rutschte und um ein Haar den Asphalt streifte. "Du kennst doch sicherlich Extremsportler, die in kaltes Wasser gehen, um sich, na ja, abzuhärten. Es ist gar nicht so unüblich", erklärte sie und warf sich den Schal wieder über die Schulter. "Außerdem ist es so ein schönes Gefühl, sich danach in Decken zu wickeln und etwas Warmes zu trinken. Vorausgesetzt, jemand macht sich die Mühe, etwas Warmes zuzubereiten."

RabensammlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt