Blau wie Vergessen

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Ich hatte sie gesehen. Ihr braunes Haar war kürzer, als ich es in Erinnerung hatte. Damals hatte es ihre Brustknospen erreicht, doch nun streifte es gerade mal ihr Schlüsselbein. Die leichten Locken, die sie sich gemacht hatte, waren eher Geschmackssache. Sie war hübsch. Nicht besonders exotisch, wie man sich eine Brazilianerin in einem Kräutergeschäft São Paulos vorstellen würde, eine, die ihre Rs auch im Englischen unbewusst rollte und von der man wusste, dass die Unverblümtheit ihrer Fremdenliebe absolut nichts mit deinen guten Umgangsformen, sondern viel eher etwas mit deinem ausländischen Akzent zu tun hatte. Ja, ihrer Reize fehlte das Mediterrane - doch es litt keinen Mangel daran. Ihre Ausstrahlung hatte sich mit der Zeit eine erfrischend kühle Grazie angeeignet, mit der ich mich zwar nie auseinandergesetzt hatte, die mich jedoch de facto erregte. Ihr Gesicht wurde vor allem durch Symmetrie, hoch liegenden Augenbrauen und einem sehr geraden Seitenprofil geprägt. Alles Merkmale, die mir dabei geholfen hatten, sie nicht zu vergessen. Hübsche Merkmale in einem hübschen Gesicht. Mir war klar, dass es ein zufälliger Gewinn im Genenlotto war, und trotzdem hasste ich sie dafür. Weil ich sie noch nach Jahren mit denselben Augen sah. Wirklich, wer hätte gedacht, dass wir zwei Sandkörner ausgerechnet hier an Land gespült werden würden? Wieder einmal hatte das Leben seine morbide Euthymie unter Beweis gestellt, fast so, als ob es aus meinen sündigen Fantasien Inspiration geschöpft hätte.

Ich erinnerte mich noch genau an die Nostalgie, die in meiner Nase gebrannt hatte, als ich sie auf einer der verpixelten Fotos der Schulwebseite sah. Ich hatte in ihr Lächeln gezoomt und nicht gewusst, ob es tatsächlich kurzweilige Angst in meinem Magen war, die rasch durch kalte Wut abgelöst wurde. Ich zoomte in ihre Augen und hatte das Gefühl, sie dadurch direkt ansehen zu können. Mandelaugen. Grasgrün. Sie blickte gar nicht in die Kameralinse. Ihre Gedanken und Aufmerksamkeit waren dann und dort abgeschweift, wie immer. Wie immer? Deine Beobachtungen sind veraltet, hatte ich mich gescholten. Trotzdem hatte ich danach keinen Zweifel mehr, was die Identität des lächelnden Schulmädchens betraf. Und es sollte in der nahen Zukunft keine Schwarzmalerei des fortschrittsfeindlichen Städtchens mehr geben. 

Sie hatte mich nicht erkannt, natürlich nicht - dafür hatte ich gesorgt. Ein kleiner Teil meiner Selbst, der verdächtig sehr wie mein gehässiger Stiefvater klang, fragte sich, ob sie mich vielleicht schlicht und einfach vergessen hatte. Für sie sollte es ein Leichtes sein. Das Vergessen.

Meine Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, als ich die Zigarette wieder einmal zwischen die Zähne klemmte und daran zog. Der Rauch, der grau und warm aus meinem Mund floh, stieg wie eine formlose Regenwolke in den dunklen Himmel. Lucky Strike. Womöglich war ich tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben lucky.

Ich würde ihrem Gedächtnis schon auf die Sprünge helfen.
Mir stand aber genug Zeit zur Verfügung.

Ich zerdrückte die Zigarette auf dem fleckigen Holztisch und verzog den Mund.
Die Dinger schmeckten abscheulich.

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Ich bin so froh, dass diese Geschichte tatsächlich gelesen wird :))
Kennt ihr dieses Gefühl, wenn jemand votet und ihr diese Person einfach heiraten wollt? XD
-------Längeres Kapitel am Donnerstag bbys
Xx
L

RabensammlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt