Kapitel 17

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Als ich meinem Vater die Treppe runter folgte, erblickte ich - wie schon erwartet - Ana. Sie stand etwas unbeholfen vor der offenen Tür und hatte die Augen auf die Türschwelle vor ihren Stiefelspitzen geheftet. Ein dicker Wollschal, den sie mindestens dreimal um ihren Hals geschlungen hatte und der trotz dieser Tatsache ihren roten Rock streifte, verdeckte ihren Mund und zeigte nur eine gerötete Stupsnase. Ein leichtes Schuldgefühl überkam mich, als mir klar wurde, dass sie den langen Weg zu Fuß auf sich genommen hatte.

"Mein Gott, was stehst du dort draußen herum? Komm rein!", sprudelte es aus mir heraus, bevor ich Anas Jackenzipfel zu fassen bekam und sie in das leicht abgekühlte Haus reinzog.

"Hey", sagte sie und rieb ihre kalten Hände aneinander. Der Sommer hatte sich, wenn er auch nicht viel Wärme für St Asaph übrig gehabt hatte, gerade erst verabschiedet und doch herrschten unangenehm tiefe Temperaturen. Vor einigen Tagen hätte ich noch schwören können, dass die Wolken sich verziehen und der Sonnenschein sich in den Gewässern spiegeln würde, aber anscheinend hatte ich deutlich daneben gelegen. Nur noch wenig Hoffnung auf tröstliches Wetter blieb in mir übrig.

"Hast du sie nicht hereingebeten?", fragte ich Bo streitlustig und sah Ana dabei zu, wie sie den meterlangen Schal abwickelte und auf einer der Haken im Flur hängte.

Bo zog die Augenbrauen misbilligend zusammen und setzte zu einer Antwort an, als Ana ihm zuvorkam: "Ja, natürlich, ich wollte nur nicht stören... Für den Fall, dass du vielleicht alleine sein möchtest." Sie schenkte meinem Vater ein entschuldigendes Lächeln, doch ich kannte Bo gut genug, um zu wissen, dass er ohne weitere Worte zu mir geeilt ist, damit ich ihm die Erlaubnis gab, sie wegzuschicken. Nicht nur ich litt unter den Geschehnissen außerhalb der vier Wände unseres Heimes. Und auch wenn er mir noch so oft einschärfte, dass ich diese Tode nicht mit Cat und Mum verbinden sollte, sah ich an seiner verbitterten Miene und Haltung, dass er es auch tat. Man konnte dem nicht entkommen.

"Ich lass euch dann mal allein. Ich muss noch viel für meine Arbeit erledigen", erklärte Dad und tauschte einen kurzen Blick mit mir. Ich hielt stand und spürte wieder ein starkes Gefühl der Abneigung, das aus dem nichts in mir aufgeflammt war. Vielleicht lag es daran, dass ich wieder an die Abende dachte, die ich alleine neben ihrem Bett verbracht hatte. Ohne Unterstützung. Physische oder psychische.

Er drehte sich um und verschwand aus unserem Blickfeld.

"Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich gekommen bin. Ich hatte das Gefühl, dass wir beide... Na ja, Gesellschaft brauchen. Sag es mir ruhig, falls ich etwas falsch interpretiert habe", meinte Ana mit einem müden Lächeln, dessen aufmunternde Wirkung durch ihre von Trauer und Angst durchzogenen Augen etwas geschwächt wurde. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, als mir langsam wieder dämmerte, dass ich wie ein menschliches Wrack aussehen musste. Meine Haare hingen in gedehnten Locken ungekämmt auf meine Schultern und ich trug ein überdimensionalgroßes gestreiftes Hemd, das ein Pijama ersetzte. Meine Beine, die wie zwei blasse Bohnenstangen unter dem kleidähnlichem Hemd hervorlugten, waren mit Gänsehaut bedeckt. Sogar der schwarze Nagellack auf meinen Zehennägeln blätterte seit heute ab, wie um mir zu zeigen, dass ich in meiner Befangenheit und meinen zahlreichen Sünden dahinrottete.

Ich schämte mich dafür, dass ich so aussah, wie ich mich fühlte.

"Nein, ich... Ein bisschen Interaktion kann nicht schaden. Es wir niemandem helfen, wenn wir alle bloß ein totes Mädchen bemitleiden", brachte ich hervor und straffte meine Schultern, um etwas lebendiger zu wirken und um das Aussehen dieses Hemdes wettzumachen.

Ana biss sich auf die Lippe und schluckte. Ich merkte, dass sie die plötzliche Nässe ihrer Augen wegblinzeln wollte und ich konnte das Brennen ihrer Kehle fast in mir spüren.

RabensammlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt