"There's a limit to how long I can wait
To how long I can take before I start to show
How close I am to letting go of myself"
- Outside (Tender)
Als Dad am nächsten Tag wieder nach Hause kam, schuftete ich stundenlang. Ich räumte den Müll weg, stopfte die Lichter zurück in die Verpackung, brachte den Rasen wieder in Ordnung, ersetzte Lebensmittel und schrubbte den Boden. Ich hatte mir noch nie so viel Mühe gegeben, also fragte mich Dad mehr als zweimal, ob alles in Ordnung sei. Ich bejahte bissig und holte noch mehr Putzmittel. Ich putzte auch die Bibliothek. Vorallem die Couch. Es ist wohl nicht schwer zu erraten, warum. Das Zimmer, das ich so lange innig geliebt hatte, war nun eine schlechte Erinnerung an einen schlechten Fehler.
Ich fragte mich immer wieder in Gedanken, ob ich zu leicht zu haben war. Und immer wieder antwortete ich mir selber mit einem glasklaren 'Nein'. Mein Verstand flüsterte mir jedoch etwas anderes zu. Was, wenn Henry allen erzählte, was wir hier oben getrieben hatten? Er würde damit meinen Namen beschmutzen, auch wenn ich nur lachte, wenn man mich danach fragte.
Erst abends, als ich bei schummrigem Licht in meinem eigenen Kunstzimmer zeichnete, erkannte ich das eigentliche Problem. Warum ich mir überhaupt Vorwürfe machte, obwohl ich stattdessen Henry hassen sollte. Dad hatte mir einen Teller mit Guacamole und einigen Brötchen nach oben gebracht, aber ich hatte ihn nur kühl angeblickt. Er sagte 'Bitteschön, ich hoffe du isst noch Guacamole', doch das erhoffte 'Danke' meinerseits blieb aus. Ich arbeitete nur weiterhin an der Hand des Menschen, den ich zeichnete. Hände waren so alltäglich, man sah sie ständig vor sich. Trotzdem waren sie schwer zu malen. Der ganze Körper konnte perfekt sein, aber wenn die Hände nicht stimmten, stimmte nichts. All die Falten und Linien...
In dieser einen Nacht hatte ich mich nach Spaß gesehnt.
In dieser einen Nacht im mitternachtsblauen Kleid meiner Mutter, das ich nicht hätte tragen sollen. Ich hatte mich nach Spaß gesehnt.
Und dann war Henry da. Er wollte auch Spaß haben. Ich hatte mich unbeschreiblich gut gefühlt, als Haut auf Haut traf. So gut wie schon lange nicht mehr. Ich hatte mir selbst verboten, überhaupt Dinge zu genießen. Ich hatte sogar aufgehört, diesen einen ganz speziellen Shake aus dem kleinen Diner hinter unserer Schule zu bestellen. Nur, weil ich den Geschmack von Banane, Erdbeeren und Karamell so sehr liebte. Abgöttisch liebte.
Es gab nämlich zwei Abschnitte in meinem Leben. Die Zeit vor dem Unfall und die Zeit nach dem Unfall. Alles veränderte sich. Die guten Erinnerungen mussten zu der Zeit vor dem Unfall gehören.
Am Montag verspätete ich mich ein wenig und musste mir deshalb eine Strafpredigt von Mr Atkinson anhören. Von wegen Disziplin im Schulalltag und eigene Verantwortung. Ich entschuldigte mich und wollte mich hinsetzen, aber mein üblicher Platz war schon besetzt. Alec saß neben Helena. Touché.
Ich ging zu meinem Platz und griff in das Fach unter die Bank, um mein Englischbuch rauszuholen. Dabei rammte ich meinen Ellbogen mehr oder weniger in Alecs Seite. Er sog die Luft empört ein und rückte mit dem Stuhl ein bisschen mehr nach hinten, damit ich an meine Sachen besser herankam.
"War ein Versehen", erklärte ich schnell und klemmte das Englischbuch unter meine Achsel.
Dann setzte ich mich auf den einzig freien Platz im Klassenraum. Neben Cal. Er nahm kaum Notiz von mir, als ich meine Tasche auf die Stuhllehne hängte und mich auf den Stuhl fallen ließ.
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Rabensammler
Mystery / Thriller"Wie witzig, dass ich dich hundert Mal umbringen kann, ohne dir dabei ein einziges Haar zu krümmen. Du darfst anfangen zu zählen." Kurz nachdem ein Mädchen in einem verschlafenen Städtchen in England brutal ermordet wird, herrscht Angst und Unruhe i...