"Und? Schon irgendwelche Ideen für den Auftrag aus meinem Unterricht?", fragte Mr Dixon, als er mich nach offiziellem Schulschluss statt wie vereinbart im großen Kunstraum im kleinen, unbenutzten Kunstraum vorfand.
Ich saß auf einem tonnenschweren Eisenschränkchen mit unbeweglichen, eingerosteten Rädern und vielen großen Schubladen ohne Inhalt. Die Sonne saß mir im freiliegenden Nacken und die kleinen Haare, die sich aus meinem Dutt befreit hatten, kringelten sich wie billige Weihnachtsschleifen. Ich war im festen Glauben in die Schule gekommen, die Kälte würde sich nur noch weiter ausbreiten und sämtliche Arbeiter im Freien eine rote, geschwollene Nase bescheren; aber das Wetterorchester schien einem unbekannten Dirigenten zu gehorchen und ließ den Himmel perlmutterfarben strahlen. Von allen Seiten hatte man weiße Wolken in verschiedenen Gestalten mit Nadel und Faden daran genähnt, aber nur temporär, denn ein riesiger grauer Schatten war schon in der Ferne zu sehen. Ein Gewitter. Aber würde soetwas Armseliges einen Mörder aufhalten können?
Auf dem Boden zu meinen Füßen lagen trockene Blumen, die Becky heute morgen hatte wegschmeißen wollen. Im letzten Moment hatte ich jedoch ein Motiv in ihnen gesehen und sie vor einem endgültigen Ende neben Kartoffelschalen und verfaultem Jogurt bewahrt. Nun füllten sie das Zimmer mit einem schweren, dichten Rosenduft aus, der nicht nur in meine Nase, sondern auch zwischen die Fasern meiner Kleidung kroch. Ich hatte meinen blauen Pullover ausgezogen und saß in einem einsamen Unterhemd da; in meiner Phantasie fehlten nur noch die dreckigen Hosenträger, die mich zu einer weiblichen Picasso gemacht hätten.
Der Pinsel in meiner Hand fühlte sich seltsam schwerelos an, als ich die Hand hob. Becky hatte heute ihren dreiundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Ich erinnerte mich daran, dass Hel und ich eigentlich die kaputten Neonbuchstaben über der Eingangstür hatten ersetzen wollen, als Geburtstagsgeschenk sozusagen, aber Helena hatte entweder das Datum vergessen oder die Idee verworfen. Wegen dem Ende dieser Freundschaft musste sich die arme Becky mit einem einfachen Silberanhänger begnügen. Der Silberanhänger war eines meiner Besitztümer gewesen, von dem ich nicht sicher sein konnte, wie es überhaupt zu mir gekommen war. Ein Geschenk? Fund? Erbe? Ich konnte nichts damit anfangen, weshalb ich gehofft hatte, Becky ginge es vielleicht anders. Und zum Glück lag ich nicht falsch: mein Hals wurde merkwürdig trocken, als Becky sich zunächst mindestens fünf Mal nacheinander bedankte und dann plötzlich furchtbar traurig wurde. Ihre Mundwinkel wanderten nach unten und sie hatte Mühe, ihre Tränen wegzublinzeln. Ich war verlegen und von einer seltsamen Gefühlsregung ergriffen - ich bemühte mich, so zu tun, als fiele es mir nicht auf. In der nächsten Sekunde hatte ich schon in der Straße der Lockwood High School gestanden.
Als ich dann einen weißen Haarschopf zwischen all den braunen Köpfen im Schulflur entdeckte, breitete sich Bedauern und im extremen Gegensatz auch Glück in meiner Brust aus. Und ich war seltsam erleichtert, als er mich nur kurz registrierte und sich nichts zu verändert haben schien. Nur konnte ich mir nicht sicher sein, ob er meinen unausgesprochenen Abschied respektierte oder ob er eine Nacht über den Kuss geschlafen hatte und ihm all die Sachen eingefallen waren, die ich hätte tun oder sagen können und eben nicht getan oder gesagt hatte. Vielleicht verglich er mich auch mit jemanden. Aber im besten und unwahrscheinlichsten Fall spielte er mein Geduldsspiel.
Ich hatte ihn begrüßt und wurde sofort danach von Henry angesprochen, der mich fragte, ob ich Lust hätte, ein bisschen 'rumzuhängen und so'. Er zeigte ein schwaches, abgekämpftes Lächeln und erwähnte dann auch, dass Helena nicht da sein würde. Nur ein Kat et Henry Ausflug, wie er es nannte. In seinen Gesichtszügen lag das Echo des Verlustes und in dem Moment hatte ich plötzlich gewusst, dass der allmächtige, stets gutgelaunte Autoliebhaber Henry Scott mich vermisste. Und da ich schon meinen Glauben in Dauerhaftigkeit nach Hel, meinen Sinn für Lust nach Sierra, meine Geduld nach Joy, mein Lächeln nach dem Hill Mädchen und meine unantastbare Sicherheit - vorallem das Gefühl - nach Amy verloren hatte, wollte ich nicht auch noch einen weiteren Teil meiner Selbst, der aus Erfahrungen und Erinnerungen bestand, zusammen mit der Freundschaft zu Henry untergehen sehen.
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Rabensammler
Mystery / Thriller"Wie witzig, dass ich dich hundert Mal umbringen kann, ohne dir dabei ein einziges Haar zu krümmen. Du darfst anfangen zu zählen." Kurz nachdem ein Mädchen in einem verschlafenen Städtchen in England brutal ermordet wird, herrscht Angst und Unruhe i...