Kapitel 23

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"Alles klar, Bo", bemerkte ich, als ich mit dem schweren Klotz in den Händen wieder in der Flur getapst kam. Mit einem schwungvollen Tritt schaffte ich es auch, die Haustür ohne weiteres hinter mir zu schließen. Der Boden schien danach noch sekundenlang unter meinen Füßen zu vibrieren und meine bemühte Leichtherzigkeit zunichte zu machen. Durch das milchige Fenster der Tür suchte ich die Nacht nach einem kleinen Jungen ab - doch das Glas, das die neugierigen Blicke zufällig passierender Leute oder wartender Gäste abschirmen sollte, verzerrte den Garten bis ins Unerkennbare. Selbst wenn der Kleine mir nach draußen gefolgt wäre, hätten seine Augen bloß wie zwei helle Sterne in der selbsterschaffenen Milchstraße der getönten Scheibe ausgesehen.

Fürchtest du dich vor ihm, weil er sich vor dir fürchtet, Katherine?

"Willst du die Tür aus den Angeln reißen? Ich hoffe, du weißt, dass das Gummi so kaputt geht", rief Dad aus dem Wohnzimmer. Meine Augen suchten das Zimmer flüchtig ab, aber da ich ihn nirgendwo erkennen konnte, ging ich davon aus, dass er vor dem Sofa auf dem Teppich kniete und sich somit auch aus meinem Blickwinkel entfernt hatte.

Ich trat mir auf die eigenen Fersen, um die so rasch durchweichten Turnschuhe auf dem schnellsten Weg loszuwerden und trug den Kasettenspieler vorsichtig bis zu der Couch. Meine Hosenbeine hatten dem feuchten Gras draußen als Handtuch gedient und sahen jetzt abstoßend nass aus. Ich registrierte den ungezähmten Kabeldschungel und die darin verfangenen bunt beschrifteten Kasetten auf unserem Fußboden mit leichter Missbilligung. Nur die Vorstellung, sie eigenhändig entwirren zu müssen, bereitete mir Kopfschmerzen. Ich stellte den Kasettenspieler mit einem dumpfen Geräusch auf einer der Kartons ab und hoffte, dass er nicht unter ihm nachgeben würde. Langsam schlug meine zuvorige stille Begeisterung in die Furcht eines Feiglings um. Natürlich war mir die Kasette mit meinem Namen sofort ins Auge gefallen; beschriftet als 'Cat & Kat - Venedig'. Ich krallte meine Finger in meinen Schal und wickelte ihn ab. Venedig. Das ich nicht lache. Klar gab es eine Kasette mit Videos über Windel-Katherine und Windel-Catelyn im verdammten Venedig. Es fühlte sich an, als ob mir jemand Salz in die offene Wunde gestreut hätte. Diese simple Beschriftung wirkte so dezent, so glücklich, so vorprogrammiert nostalgisch. Mein Fuß zuckte vor und beförderte die Kasette unter das Sofa, direkt in den wallenden Staub hinein. Bo war viel zu sehr im Betrachten anderer Erinnerungen versunken, um das Verschwinden der Kasette zu bemerken.

Mein verräterischer Herzschlag beruhigte sich prompt. Ich wollte nichts von dem sehen. Kein beschissenes Venedig oder gestellte Filmchen, in denen May meine Schwester und mich neben den Kanälen herumlaufen ließ, damit wir uns diese Beweisstücke mit unserer Familie später anschauen und Sentimentalität heraushängen lassen können. Jetzt würde es darauf hinauslaufen, dass alle nur Cat im Visier hätten. Mitleidmitleidmitleidmitleid.

Die Arme, schau doch, wie schön sie war.

"Kat?" Dads Stimme riss mich aus meinen Gedanken an mitleidig lächelnden Tanten. Es hatte sich ein nervzerreißendes Summen in meinem Ohr eingenistet, das Bo mit einem Wort in der Luft zerrissen hatte. Die Stille kam mir unangenehm entgültig vor.

"Ja?" Ich räusperte mich und setzte mich auf die Armlehnte des blauen Sessels. Das war die einzige kasettenfreie Zone.

"Ich habe gefragt, ob du das Zeug vom Sofa wegräumen könntest. Damit wir uns darauf bequem machen können", erklärte er und sah mich einige Sekunden länger an als sonst. Ich nickte nach einem Moment der Verzögerung und begann hastig, die Kasetten, Bilder und Blätter in eines der Kartons zurückzuräumen. Bo verband den Fernseher mit dem Kasettenspieler und klopfte mit der Faust erbarmungslos auf die Oberfläche, bis der kleine Monitor am Spieler grün erstrahlte.

"Ah, geht doch", murmelte Dad fachmännisch und kroch kurz hinter unserem Fernseher, aus dessen totem Gesicht Amy Clove mir immer noch mit Smaragdaugen entgegenblickte. Ich sank auf das Sofa und umklammerte meine Knie, die ich fest an mich gezogen hatte.

RabensammlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt