Kapitel 24

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"Du hast angerufen?" Ich hatte mein Handy lautgestellt und kratzte nun an meiner durchsichtigen Hülle herum. Ein überraschtes Schweigen war für einige Sekunden die einzige Antwort.

"Ja, das habe ich tatsächlich", sagte Cal schließlich. Das erschöpfte Seufzen einer belasteten Matratze war kurz darauf zu hören und in meiner Vorstellung hatte er sich auf den Rücken gelegt, um die weiße Zimmerdecke abzustarren. "Wie geht es dir?" Seine flache Stimme war eine Bestätigung.

"Sag bloß nicht, dass du mich nur belästigt hast, um diese banale Frage zu stellen", schnaubte ich - die Tür des Zimmers stand einen ganz kleinen Spalt breit offen, durch den ich in das Wohnzimmer spähen konnte. Die Küchentür war auch nur angelehnt worden, sodass Bos Arm beim Zerstückeln zu beobachten war.

"Ich dachte, das gehört sich so?" Ein belustigtes Lachen.

"Was gehört sich so?"

Eine ganze Weile lang antwortete er nicht, als ob er sich einen anständigen Satz mit fehlerloser Grammatik und korrektem Satzbau zurechtlegen würde. Mir war aufgefallen, dass er das manchmal tat. Andere Menschen sorgten sich um solche Sachen nur beim Schreiben und erlaubten sich dann jede Menge halbe Sätze und falsch konjugierte Verben beim Sprechen - denn das blieb nicht für die Ewigkeit. "Am Anfang einer Konversation fragt man als guterzogener Mensch nach dem Wohlbefinden des Gesprächspartners", meinte er dann.

"Das ist auch der Grund, weshalb mich deine Frage gewundert hat", erklärte ich und stützte mein Kinn auf das Handy in meiner Hand ab.

"Du kennst mich gerade mal vier Wochen lang und glaubst, mich etikettieren zu können - nebenbei bemerkt, ohne mit mir ausgehen zu wollen", erwiderte er gezielt und mit einer Stimme, von der ich erkennen konnte, dass sie zwischen zwei sich nach oben kringelnden Lippen entschlüpft war. Ich hätte es wahrscheinlich niemand anderem außer mir selbst eingestanden, dass ich die Konversation gerne in diese Richtung abdriften sah; obwohl ich nicht vorhatte, seinen Neckereien nachzugeben.

"Ich bin mir sicher, dass du noch Sekunden zuvor beteuerst hast, nicht über... das hier reden zu wollen." Dads Hand in der Küche sammelte die Gurkestückchen ein und legte sie auf zwei kleine Frühstücksteller. Der Film im Fernseher lief noch trotz der Tatsache, dass keiner mehr da war, um Lang-Haar-Bo zu beobachten.

"Das hier? Was ist denn 'das hier'?", fragte Cal - und vielleicht lag es nur daran, dass er sich von dem Mikrofon entfernte, aber er sprach leiser. Es war nicht die Art von leise, mit dem man eine ernste Besprechung beschrieb, sondern die provozierende Rede-mit-mir-Art. Aber ich wollte nicht.

"Sag mir entweder jetzt, warum du mich erreichen wolltest oder warte bis morgen - ich habe etwas zu tun." Es gefiel mir nicht, wie direkt Cal Dinge, denen man aus dem Weg gehen wollte, ansprechen konnte. Dad kam mit einem vollbepackten Tablett just in dem Moment aus der Küche und stutzte, als er das leere Sofa sah.

"Ich wollte fragen, ob du mein Kunstprojekt sein möchtest", erklärte Cal dann und schwieg einige Sekunden lang abwartend. Kunstprojekt? Eine Reihe von Bildern schwirrten an meinem inneren Auge vorbei, die ich so schnell wie möglich aus meinem Bewusstsein fegte. Ich konnte nur vermuten, was er vorhatte, aber in meiner Vorstellung hing ich festgenagelt an einer großen Leinwand; und da Kunst heutzutage so divers war, fragte sich keiner, was ein totes Mädchen in einer Kunstausstellung zu suchen hatte.

"Ich soll dein Kunstprojekt sein?", wiederholte ich. Die Lautstärke des Filmes im Wohnzimmer nahm ab - die einzige logische Erklärung war die, dass mich Dad offensichtlich gehört hatte und das Telefongespräch nicht stören wollte. Mein Fuß tastete nach der Tür und schloss sie mit einem leichten Schubser. Völlige Dunkelheit färbte meine Umgebung wie schwarze Tinte, die als große herzschlagähnliche Tropfen weiße Buchseiten befleckte. Statt mich jedoch orientierungslos zu fühlen, war ich einmal tatsächlich froh, nichts sehen können, egal wie oft ich gegen die Finsternis blinzelte. Auch die Geräusche von nebenan verstummten eingeschüchtert, sodass ich das Rauschen meines Blutes fast hören konnte. Ich erinnerte mich in dem Moment, irgendwo gelesen zu haben, dass völlige Stille Menschen in den Wahnsinn trieb. Irgendwann hörten sie nur noch, wie ihr Körper arbeitete und würden alles dafür geben, dem Pochen, Schlagen, Grummeln und Rauschen ein Ende zu setzten. Was in dem Text nicht gestanden hatte, ist was sie dann taten. Um den Geräuschen ein Ende zu setzten, meine ich.

RabensammlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt