Schwarz wie Gedanken

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Es waren die milden Sonnenstrahlen, die mich aus meinem wirren Traum weckten. Sonnenstrahlen, die durch meine geschlossene Augenlider sickerten. Zunächst schien mein Verstand vollkommen leergefegt zu sein, nur das Prickeln meiner Hände und mein schmerzender Knöchel verrieten mir die Wahrheit.

Ich hatte einem zweiten Mädchen das Leben geraubt, ohne einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden. Eine krankhafte Landung an Adrenalin durchzuckte meinen Körper, als ich mir sie an Amys Stelle ausmalte - und das holte mich endgültig aus meinen überraschend erholsamen Schlaf. Es war die Ekstase, für die ich mich sogar noch vor drei Jahren teilweise geschämt hatte. Man musste kein doktortitelbepackter Psychologe sein, um zu wissen, dass sie nicht normal war. Ich hatte irgendwann bemerkt, dass keiner meiner Schulkameraden ihren Vater umbringen wollten. Also schwieg ich und traute mich nie, meine Mutter zu fragen, warum ich es tat. Noch heute geriet ich in Panik, wenn ich mir vorstellte, ich hätte ihr meine Sünden gebeichtet. Ich hatte damals nicht gewusst, dass meine Mutter es nicht verstanden hätte. Es.

Ich dachte an das Atmen der Menge und wie sich die Gespräche wie ein regelmäßiger Herzschlag angehört hatten. Bleiben Sie doch noch ein bisschen. Ah was, ich werde später wieder zurückkommen. Ich brauche nur ein wenig frische Luft, es ist doch so furchtbar eng hier. Wie Sie meinen. Diese Veranstaltung sollte nicht verpasst werden. Auf Wiedersehen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie ihr Wort halten. Es wäre schön, wenn sie nicht verschwänden. Natürlich. Ich muss so oder so hier hin zurück. Nun gut.

Ich hatte sie im Auto dann angerufen. "Hey, wo bleibst du?", hatte sie gefragt, während ich eigentlich nur dem Rauschen im Hintergrund lauschte und in mich hineinlächelte.
"Ich bin gleich da. Ich musste bei einer... bei einem Event vorbeischauen", hatte ich ihr erklärt und kurz darauf den Anruf beendet. Ich fuhr bis zur Brücke, genau dahin, wo wir uns verabredet hatten. Brücken waren in meiner Vorstellung ein bittersüßer, poetischer Ort um zu sterben - so nah am Wasser, wo Unheil vorprogrammiert war. Auch Wasser begegnete ich mit gemischten Gefühlen. Einetseits erinnerte es mich an meinen Stiefvater und wie er verunglückt war, anderseits erinnerte es mich an das herrliche Gefühl der Selbstzerstörung.

Wenn man im Wasser lag, war man von einem Element umgeben, das den größten Teil unseres Körpers ausmacht und gegen dem wir dennoch völlig hilflos sind. Beim Ertrinken quält es uns nur so lange, bis wir nachgeben und es in unsere Lungen lassen. Dann ist der brennende Schmerz in der Brustgegend nicht länger vorhanden und man spürt nur noch, wie sein eigener Körper ohne Kontrolle immer mehr in die eisblauen Tiefen des Gewässers sinkt um dort seinem Leiden ein Ende zu setzen. Ein friedlicher Tod, nicht?

Ich kannte Amy kaum, doch das war auch nicht nötig. Sie interessierte mich genau so wenig wie das Mädchen vor ihr, das Mädchen mit dem Gesicht einer Porzellanpuppe. Wie stumpf ihre Augen im Vergleich zu Amys wirkten. Aber niemand konnte ihr strahlendes Grün übertreffen. Es war ganz egal, wen ich mir aussuchte, sie waren nichts weiter als wertlose Kopien eines zerstörerischen Engels.

Und ich gab zu, dass ich es eine ganze Minute lang mit Chiara Hill versucht hatte. Ich hatte versucht, ihr Auftreten mithilfe meiner Fantasie zu verformen, bis ihr flacher Oberkörper zu runden Brüsten wurde und ihre fahlen Lippen sich rot färbten - rot wie das Blut, das nach diesem lächerlichen Versuch aus den Wunden an ihren Handgelenken fließen sollte. Chiara Hill war nichts, doch der einzige wahre Rabe war alles. Nicht das Alter würde ihre Schönheit zerstören, sondern ich. Ich allein. Ich allein würde sie bis zu dem Punkt treiben, an dem sie meiner Mutter in die Hölle folgte.

Mein Stiefvater hätte mich für diese Hochmut getadelt, aber er konnte nicht wissen, dass er mir das unbewusst beigebracht hatte. Mut. Stolz. Ehre. Schmerz. Dieser verdammte Heuchler. Dieser verdammte Feigling.

"Ich werde dich jetzt ertränken", hatte ich bemerkt und eine Zigarette in meinen Mund gesteckt, um sie dann mit einem Feuerzeug anzuzünden. Vielleicht sollte das ein Ritual werden. Eine Zigarette für jedes Mädchen. Mein kleines Geschenk an sie. Ich hatte mir vorgenommen, diese nach Verwesung schmeckenden Dinger nicht mehr anzurühren, aber als ich es da tat, kam es mir genau richtig vor.

"Sehr witzig", hatte sie erwidert und mich schräg von der Seite beobachtet. "Seit wann rauchst du?"

Ich hatte sie angelächelt, breit, und ihr den Rauch ins Gesicht geblasen - ich wollte sie packen und durchschütteln, als sie daraufhin hell hustete.

"Hast du keine Angst?", hatte ich sie gefragt und die sekundenalte Zigarette in den Fluss unter uns geworfen. Gleich bist du dran, Amy. Fliegt sie nicht wunderschön? Hört es sich nicht wunderschön an, wie sie zischend erlischt?

"Hör auf mit dem Mist", hatte sie gesagt.

"Rede nicht so mit mir", hatte ich ihr in einer plötzlichen Anfuhr aus Zorn entgegen geschleudert und umfasste ihren Hals mit einer Hand. Viel widerstandsfähiger als Chiaras. Amy trat mir gegen meinen Knöchel, doch es half natürlich nicht. Ich zerrte sie runter, bis zum Fluss, und tunkte ihr Gesicht unter das verseuchte Wasser, immer wieder. Sie atmet noch. Sie atmet noch. Mach weiter, Junge.

Als ich wieder unkontrolliert zitternd im Auto saß, holte ich das kleine Papier mit blauen Buchstaben aus dem Fach des Beifahrersitzes. Sie verdiente es. Sie verdient es, sagte der Schmerz in meiner Brust und die Dunkelheit in meinem Kopf.

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Hallö :) Ich habe offiziell beschlossen, mir die Haare weiß zu färben.

Wie krank findet ihr den Täter auf einer Gestörtenskala von 1 - 10?

Xx,
L

RabensammlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt