Kapitel 11

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Den ganzen Tag erlebte ich in einem Halbschlaf, was mich ehrlichgesagt auch nicht störte. Ich wusste nicht, ob ich zu viel oder gar nicht nachdachte. Was ich wusste, war bloß, dass ich zu viel Zeit zum Nachdenken hatte, da ich allen aus dem Weg ging. Ob ich die Zeit jedoch tatsächlich zum Nachdenken nutzte, war eine andere Frage. Es war, als ob ich mich mit verschiedenen Gefühlen betrunken hätte. Si brachte mir sogar einer der selbstgebackenen Hörnchen aus Betty's Diner mit und versuchte mit dieser netten Geste, mich zum Reden zu bringen, aber ich war nicht hungrig. Trotzdem nahm ich das warme Gebäck und bedankte mich. Ich beschloss auch, nichts zu seiner offensichtlichen Verlegenheit zu sagen.

Si war nicht der junge Silver, mit dem ich geschlafen hatte. Deshalb herrschte eine Leere zwischen uns, die er trotz seinem dummen Hörnchen nicht ausfüllen konnte. Ich musste wohl wirklich am Boden zerstört aussehen, wenn er sich einen solchen Schubs gab und versuchte, mir bessere Laune zu machen. Oder vielleicht kannte der Teil in ihm, in den ich mich damals verliebt hatte, mich besser als alle anderen.

Nachdem er gegangen war, hatte ich sein Geschenk in den Mülleimer geworfen und hatte meine restliche Selbstbeherrschung zusammengekratzt. Ich durfte meine Gefühle nicht so offen zur Schau tragen.

Als die letzte Stunde endete, war es wie eine kleine Erlösung. Ich beobachtete, wie sich die Gänge leerten und fühlte mich dabei wie ein kleines fünfjähriges Kind, das sein Geburtstagsgeschenk eine Woche vor dem großen Tag im Versteck gefunden hatte und nun mehr als erpicht darauf war, es endlich wieder zu Gesicht zu bekommen und behalten zu dürfen. Ich werde nicht lügen: ich war verdammt gespannt auf die private Kunststunde. Und vielleicht wollte ich Mr Dixon ein klitzekleines bisschen auch beweisen, dass ich tatsächlich so viel Potenzial hatte wie er vermutete.

Vorsichtig darauf bedacht, meine Kohlenzeichnungen nicht mit den Fingerkuppen zu verwischen, klemmte ich meine Ansammlung aus Kunstutensilien unter meinen Arm und steuerte auf die einsam wirkende Tür des Kunstzimmers zu.

"Bis morgen." Ich zuckte zusammen und fühlte mich fast ertappt, als ich mich nach dem Ursprung der Stimme umsah. Sierra winkte mir vom Ausgang aus zu und verschwand hinter der Tür. Meine Antwort blieb mir im Hals stecken, als diese zuknallte. Ich griff nach der Türklinke des Kunstzimmers und versuchte vergeblich, sie hinunterzudrücken. Die Tür war abgeschlossen.

Ich schluckte meine Flüche brav runter und beschloss, zu warten, obwohl ich das an meinen Körper gepresste Papier gefährlich zerknitterte. Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war ein verdrecktes, faltiges Papier - ich redete mir seit Ewigkeiten ein, dass man nur ein echter Künstler war, wenn man lernte, auf das Arbeitspapier aufzupassen. Wenn diese Theorie stimmte, würde ich mich wahrscheinlich nie eine echte Künstlerin nennen können. Denn alle meine Zeichnungen waren in meiner kleinen, in der Regel extrem vollgestopften Umhängetasche mehrfach gefaltet oder geknickt worden. Und alle meine bisherigen Kunstlehrer hatten das jedes Mal mit einem Kopfschütteln quittiert und dazu dramatisch geseufzt. Das hatte mich furchtbar genervt, weil ich es für unmöglich hielt, das Papier beim Transport unbeschädigt zu lassen, aber im Endeffekt war ich ihrer Meinung.

Das Rasseln eines Schlüsselbundes kündigte Mr Dixons Ankunft an. Ich drehte mich zu ihm um und stellte fest, dass er mit den Dossiers und Pinseln ebenfalls wie ein bepackter Esel aussah.

"Sie sollten ihre Zeichnungen zukünftig in Kunstordner legen. Wenn sie Unreinheiten vermeiden wollen", sagte er mit einem Blick auf meine eingequetschten Papiere und schob den leicht rostigen Schlüssel in das Schloss. Das Klicken kam im perfekten Gleichklang mit dem plötzlichen Hüpfer meines Herzens.

RabensammlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt