VIII

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Cugulim brauchte mehr als einen Moment, um zu begreifen, was hier vor sich ging. Von dem Windstoß, der ihn umgeworfen hatte, hatte er sich schnell erholt, er stand bereits wieder auf beiden Beinen. Seinen Angreifern schien der Wind deutlich schlechter bekommen zu sein, sie lagen allesamt ohnmächtig am Boden. Die Nacht war auf einmal heller, nicht klar, aber heller, als hätte sich der Vollmond über den Horizont erhoben. Cugulim sah sich um und versuchte die Lichtquelle zu erfassen. Ihm war noch ein wenig schwindelig und seine Augen hatten sich noch vom harten Aufprall auf den Boden zu erholen. Auch seine Ohren funktionierten wohl nicht ganz ordnungsgemäß, denn als er eine Stimme hörte, die zu ihm sprach, klang die seltsam verzerrt.
"Entschuldige den harten Stoß, junger Freund", hörte er eine sanfte, aber leicht zitternde Stimme vor ihm. Sie wurde immer klarer und lauter und Cugulim begriff, obwohl er die Augen nun geschlossen hatte, dass der Träger dieser Stimme auf ihn zukam.
"Ich denke, du wirst verstehen, dass dies zu deiner Rettung absolut nötig war."
Cugulim konnte die Person, der diese Stimme gehörte, nun nicht mehr bloß hören, sondern auch direkt vor sich fühlen. Langsam öffnete er seine Augen. Das Gesicht direkt vor ihm war alt, müde und furchig, doch die hellblauen Augen strahlten. Die vollen Lippen umspielte ein sanftes Lächeln, das in den brustlangen Vollbart überging, der genau wie die buschigen Augenbrauen von einem klaren Weiß war. Den Rest des Körpers verhüllte ein tiefblauer Mantel, dessen Kapuze sich der Mann in die Stirn gezogen hatte. In seiner rechten Hand hielt er einen ebenso blauen Stab, auf den er sich stützte. Oben am Stab wand sich eine hölzerne Schlange um das Ende, in deren weit aufgerissenem Maul eine große blaue Kugel lag, die ein helles Licht ausstrahlte.
"Ich hoffe, ich habe dich nicht zu hart getroffen", meinte der Mann und lächelte ihn an. "Mein Name ist Alatar, hierzulande nennt man mich auch Krikûl, den Wächter. Ich bin einer der fünf Istari, ein Bruder Gandalfs und Sarumans, falls euch diese Namen etwas sagen."
"Ihr... ihr seid ein Zauberer?", fragte Cugulim stockend. So ganz verstand er nicht, was dieser Alatar ihm sagen wollte.
Dieser schmunzelte nur. "Manch einer würde mich als solcher bezeichnen. Ich bin ein Maiar, gesandt aus den unsterblichen Landen im Westen, bereits seit vielen hundert Menschenleben auf dieser Erde. Nun, zur Zeit, da die größte Bedrohung für Mittelerde wieder erweckt wurde, ist es für mich und meine Brüder Zeit, in die Geschichte einzugreifen.
"Brüder?", fragte Cugulim. In seinem Kopf drehte sich inzwischen alles.
"Ich fürchte, ich werde euch einiges erklären müssen, doch das soll nicht hier geschehen", antwortete Alatar gelassen. "Ich nehme euch mit in mein bescheidenes Reich, dort könnt ihr euch ausruhen."
Cugulim nickte bloß, er wusste, dass das die beste Lösung war. Der Tag war lang und anstrengend gewesen und seine Kräfte waren am Ende. Er musste sich ausruhen und die Tatsache, dass Alatar ihn soeben das Leben gerettet hatte, machte die Entscheidung leicht. Der letzte Hauch an Misstrauen war verflogen. Nun beobachtete er, wie Alatar auf den Felsen trat und einen lauten Pfiff ausstieß. Kurz darauf war das ferne Wiehern eines Pferdes zu hören, ein paar Sekunden später wieherte ein weiteres.
"Mir scheint, ich hätte euren tierischen Freund wiedergefunden", meinte der Alte lächelnd.
Erleichtert lächelte Cugulim den Zauberer an. "Ich danke euch."
Schon seit elf Jahren, kurz bevor er nach Minas Tirith kam, kannte und ritt er Ríad. Er war nach dem Tod seines Vaters sein größter Trost gewesen. Endlich sah er ihn nun aus der Ferne angallopieren, das Licht aus Alatars Stab reichte sogar aus, um das zweite Pferd zu erkennen. Es war ein pechschwarzer Rappe, groß und majestätisch. Ein Pferd, so schön, wie Cugulim es noch nie gesehen hatte.
"Es ist Zeit aufzubrechen, mein Freund", sagte Alatar lächelnd und ging den beiden Pferden entgegen. "Komm! Du musst dich ausruhen, diese Nacht wird kurz und der morgige Tag lang. Wir müssen los."

Besorgt sah Atharn, Marschall des Königreichs Rohan, in den Westen. Die Stimmen in seinem Rücken machten seinen Ausblick nur noch düsterer, denn der König hielt Kriegsrat mit seinen Beratern. Ein solcher Rat war überfällig, hatte der Krieg die Grenzen Rohans doch beinahe erreicht. In der Ostfold kam es immer wieder zu Überfällen durch Orks, die nach ihren Gräueltaten so lautlos und schnell verschwanden wie sie gekommen waren. Im Auenland hatte es bereits Auseinandersetzungen zwischen Hobbits und Orks gegeben und auch im Breeland und den Wiesen südlich des Auenlandes sammelten sich Orks, wenn man den Berichten der Späher Vertrauen schenken wollte. Der Krieg würde kommen, das wussten sowohl Atharn als auch sein König, Théoden II. und dessen Berater. Die schwierige Frage war nur, wie dieser Krieg am besten zu führen sei.
“Edoras ist nicht sicher, Herr. Das Volk kann hier nicht bleiben, sie werden niedergemetzelt werden“, sagte gerade einer der führenden Berater des Königs. Sein Name war Kithol und auch wenn er sich aufgrund seiner Engstirnigkeit und Arroganz bei Atharn äußerst unbeliebt gemacht hatte, musste er ihn dieses Mal recht geben. Edoras konnten sie nicht verteidigen.
“Was ist mit Helms Klamm? Die Festung hat uns schon oft gerettet!“, warf ein weiterer Berater ein.
“Helms Klamm ist kein Ausweg! Erinnert euch, welch knappen Ausgang die letzte Schlacht, die dort geschlagen wurde, nahm“, entgegnete der jüngere Bruder des Königs, Isladin. “Flöhen wir erneut dorthin, uns würde nur unser Untergang in den staubigen Ruinen erwarten!“
Sofort entbrannte eine heftige Diskussion über einen möglichen Rückzug nach Helms Klamm. Atharn konnte nur innerlich den Kopf schütteln. Wie konnten diese Männer der törichten Meinung sein, diese Festung könnte sie erneut beschützen? Schon damals war es ein Fehler des Königs gewesen, sich in Helms Klamm zu verschanzen. Nur viel Glück hatte sie damals vor der Niederlage bewahrt. Würde der König, dessen Vater ihn aufgrund der Ähnlichkeit mit den legendären König Théoden nach diesem benannte, den selben Fehler begehen wie sein gleichnamiger Vorfahr? Atharn konnte und wollte das nicht zulassen. Just in dem Moment, als er sich den Kreis an Personen zuwandte, verstummten sie alle.
“Atharn, was ist deine Meinung?“, hörte Atharn den König fragen. “Sollen wir uns nach Helms Klamm zurückziehen?“
“Mein König, ich bin mir sicher, das Verstecken in Helms Klamm ist keine Lösung auf diese schwere Frage“, antwortete der Marschall. “Vielmehr müssen wir Schutz suchen, Schutz bei unseren Verbündeten.“
“Ganz Mittelerde liegt im Krieg, Herr Atharn!“, meinte einer der Berater. “An wen sollten wir uns denn wenden?“
Zustimmendes Gemurmel kam aus allen Richtungen. Die Gesichter der Berater waren hoffnungslos und verzweifelt. Atharn wusste um die Schwierigkeiten seines Plans, doch ebenso war ihm bewusst, dass es keine sonstige Gelegenheit gab, diesen Krieg in die richtige Richtung zu lenken, bevor er überhaupt beginnen hatte.
“Die letzten Völker Mittelerdes müssen sich zusammenschließen“, fuhr er daher fort. “Wir müssen unser Heil in Gondor suchen, uns bleibt keine andere Wahl.“
“Gondor.“ Kithol legte Verachtung und Missmut in dieses eine Wort. “Gondor ist schwach. Gondor vermag und nicht zu helfen, Gondor kann sich nicht einmal selbst helfen.“
“Gegen die Macht des Melkor, des dunklen Feindes, sind wir alle schwach“, meinte nun der König, doch Atharn glaubte in seinen Augen einen kleinen Funken Hoffnung aufglühen sehen zu können. “Atharn hat recht. Wir müssen uns mit den anderen Völkern Mittelerdes verbünden. Es ist die einzige Gelegenheit, den Feind ein für alle Mal auszuschalten.“
Théoden erhob sich aus seinem Stuhl und trat neben Atharn ans Geländer. Sein Blick streifte über alle Länder, die ihm untertan waren, im Süden, Norden, Osten und Westen. Dort verweilte sein Blick einen Moment. Die dunkle Macht, die von diesem Ort weit in der Ferne ausging, war erdrückend. Er wusste, was er mit dieser Entscheidung, Edoras aufzugeben und alles Volk nach Gondor zu schicken riskierte. Er konnte diese Stadt bereits brennen sehen. Doch er wusste, all das war nötig, wollten sie eine Chance haben, die Macht Melkor Morgoths zu brechen. Solange diese Möglichkeit bestand, lohnte es sich, dafür zu kämpfen, dafür zu töten, dafür zu sterben.

Der letzte Silmaril: Morgoths ErweckungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt