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Das kalte Gemäuer der alten Festung Dol Guldur tief im Süden des Düsterwaldes war leer und tot wie eh und je. Keine Menschen-, Elben- oder Orkseele war dort zu erkennen, nicht einmal für die geübten Jagdaugen Tauriels. Zusammen mit vier weiteren Elben lag sie im Schatten des Walddickichts versteckt, wenige Meter vom Eingang zur Festung entfernt. Nur ein paar hundert Meter weiter im Wald hinein hatten die restlichen etwa sechzig Elben ihr Lager aufgeschlagen, alle entschlossen und kampfbereit. Sowohl die Bogenschützen, die Tauriel von Anfang an bei ihrem Auftrag begleiteten, als auch die Grenzwachen, die sich ihnen hier angeschlossenen haben, brannten auf den Kampf mit den Orks, die sich in diesen alten Gemäuern verstecken sollen. Ein Bote aus Gondor soll von ihnen entführt worden sein, ein Bote mit einer wichtigen und dringenden Nachricht. Es war an der Zeit, diesem düsteren Treiben im Süden ein Ende zu setzen.
Weiter blickten sie stumm durch die Äste auf die alte, inzwischen stark zerfallene und überwucherte Festung. Als Tauriel auch nach weiteren drei Minuten nichts Verdächtiges erkennen konnte, gab sie ihren Gefährten ein Zeichen, dass sie sich zurückziehen sollten. Eine halbe Minute später trafen sie sich alle etwa hundert Meter tief im Wald.
"Das Beobachten hat keinen Sinn, die Orks werden sich nicht zeigen", meinte Tauriel und sah in die Runde. Alle vier waren erfahrene Kämpfer, die sie bereits seit Jahren kannte, einige von ihnen hatte sie sogar selbst ausgebildet.
"Was sollen wir dann tun, Herrin?", fragte eine junge Frau mit rückenlangem goldblondem Haar und braunen, wachsamen Augen.
"Ich werde mich in die Festung hineinbegeben, Adrëa", antwortete Tauriel. "Zwei von euch werden mich begleiten."
Ohne Zögern traten Adrëa und Henthôr, der Elb, der sie vor dieser Bedrohung erst gewarnt hatte, wie ein Mann vor.
"Das ist gut", meinte Tauriel karg, dann wandte sie sich den beiden anderen zu. "Kehrt zurück ins Lager und berichtet Úzhaldiad, dass ich die Festung auskundschafte. Greift nicht ein, bis ich es euch befehle."
Die beiden nickten und verbeugten sich, dann rannten sie in den Wald hinein. Nach wenigen Metern blieb der eine Elb stehen und sah Tauriel nochmals an.
"Galu laew, Herrin", sagte er und wandte ihr erneut seinen Kopf zu, bevor er endgültig im Dickicht verschwand.
"Mae govannen, Dhriul", flüsterte Tauriel in den Wald hinein, dann wandte sie sich wieder ihren beiden Jägern zu.
"Ich kann euch nicht garantieren, dass auch nur einer von uns lebendig wiederkommt", begann sie mit der eiskalten Wirklichkeit. "In diesen Gemäuern leben nun wahrscheinlich hunderte von Orks, Wargen und anderen schrecklichen Gestalten. Es ist nur wahrscheinlich, dass wir alle bei dieser Mission umkommen."
Adrëa und Henthôr nickten nur, es war nicht das erste Mal, dass Tauriel ihnen dies sagte. Beide wussten sie, welche Risiken dieser Auftrag in sich barg.
"Uns wurde berichtet, dass ein Bote aus Gondor nahe der Festung angegriffen und hierher verschleppt wurde", fuhr die Heerführerin fort. "Dieser Bote war allem Anschein nach mit einer äußerst wichtigen und dringenden Nachricht unterwegs. Wir müssen ihn befreien."
Ein düsteres Nicken wurde ihren Worten erwidert, dann holte Tauriel tief Luft.
"Haltet eure Bögen schussbereit. Wir gehen hinein." Mit diesen Worten deutete sie ihnen an, ihr leise zu folgen. Gebückt, schnell und leise rannten sie hintereinander am Waldrand entlang. Bis auf das Krächzen mehrerer Raben war es totenstill, obwohl der Tag bereits angebrochen war, hielten die schwarzen Wolken weiterhin jeden Sonnenstrahl ab, die Umgebung war so dunkel, dass man meinen könnte, es sei tiefste Nacht. Tauriel schlug einige Haken, dann brach sie aus dem Dickicht des Waldes aus. In nur drei Sekunden hatten sie alle die freie Fläche zwischen dem Rand des Waldes und den Grundmauern der Festung überwunden. Niemand hatte sie entdeckt, Dol Guldur schwieg weiterhin. Kein Laut war zu hören außer dem leisen Atem der drei Elben, die flach an eine Mauer gedrückt dastanden. Tauriel lugte um die Ecke. Weit und breit war kein Ork, Warg oder eine dieser grässlichen Riesenspinnen zu sehen. Die Festung wirkte so verlassen wie in den letzten Jahren und dennoch wusste Tauriel, dass ihr Feind näher war als sie dachten. Entschlossen griff sie in die kleine Tasche an ihrem linken Bein und zog den schwarzen Runenstein hervor. Sie wusste, was zu tun war und Kili würde ihr in diesen letzten Minuten beistehen.
"Ich komme zu dir", flüsterte sie, drückte den Stein an ihre Lippen und ließ ihn wieder in ihrer Tasche verschwinden. Dann zog sie ihre zwei Schwerter aus feinstem elbischen Stahl empor und sah zu ihren Begleiten hinüber. Beide nickten grimmig, als würden sie ihre Gedanken genau verstehen. Vier Sekunden später stürzten drei Elben mit gezogenen Schwertern auf die kleine Plattform im Osten der Festung zu.

Der erste Ork hatte Tauriels Schwert bereits in der Kehle, noch bevor sie ihn überhaupt gesehen hatte. Wie durch Zauberhand tauchten plötzlich überall auf der Plattform Orks auf, mindestens acht Stück. Die drei Elben aber waren vorbereitet und so waren fünf Orks schnell erledigt. Doch die übrigen Orks hatten sich schnell von ihrem Schrecken und ihrer Überraschung erholt, der Kampf Ork gegen Elb, eins gegen eins, begann. Nun bemerkten auch Tauriel und ihre beiden Mitstreiter, dass diese Orks anders als die gewöhnlichen, die früheren Orks waren. Ihre Kampftechnik war äußerst gefährlich, sie beherrschten viele Manöver, Finten und Tricks mit ihren Schwertern, die sie zu gefährlichen und starken Gegnern machte, selbst für die drei Elben, die jahrelanges Training und eine hervorragende Ausbildung genossen hatten. Gerade ließ Tauriel den Stoß ihres Gegners geschickt in's Leere laufen und stieß ihm ihr Schwert in den Rücken. Röchelnd sank der Ork zusammen. Auch bei Andrëa und Henthôr war es nur eine Sache von Sekunden, bis sie ihre Gegenüber überwältigt hatten. Doch Tauriel sah, dass sich ihre Situation geändert hatte. Rings um die Plattform herum standen weitere Orks, mindestens zwanzig von ihnen bildeten einen undurchdringlichen Kreis um die Kämpfenden. Es gab kein Entkommen aus dieser Situation. Inzwischen hatten auch Andrëa und Henthôr erfasst, was hier gerade geschah. Mit blankem Stahl, von dem noch der letzte Rest Orkblut tropfte, hatten sie sich in einem Dreieck postiert, doch alle hatten die Ausweglosigkeit der Situation erkannt.
"Wer seid ihr?", fragt Andrëa den größten der Orks, der offenbar der Anführer zu sein schien. Seine Haut war ungewöhnlich dunkel, seine Körperhaltung für einen Ork erstaunlich gerade. Die katzengelben Augen blitzten sie an, der Mund war zu einer hässlichen Fratze, die wohl ein hämisches Lächeln darstellen sollte, verzogen.
"Mein Name ist hier unnötig", antwortete er mit scharrender Stimme. "Für dreckige Elben wie euch bin ich nur eines: der Tod."
Die ganze Meute stimmte spöttisches Gelächter an und Tauriel begann zu begreifen, dass ihr allerletztes Gefecht unmittelbar bevorstand.
"Nun sollt ihr sterben, Elben, und uns unser wohlverdientes Festmahl bringen!", sagte der Anführer spöttisch. "Eure Elbenfreunde im Wald werden in diesem Moment ebenfalls angegriffen, dass wird ein Mahl heute Abend geben, wie wir uns es schon lag erträumten!"
Tauriel wusste nicht wieso, aber die Nachricht vom Angriff auf die anderen Elben überraschte sie keineswegs, vielmehr hatte sie erwartet, dass auch der Rest ihrer Mannschaft angegriffen worden war. Hier in Dol Guldur schien es weitaus mehr Orks zu geben, als sie erwartet hatte. In diesem Moment, als sie sich gerade dazu entschieden hatte, auf die Orks loszustürmen, hörte sie ein lautes Wiehern. Wenige Sekunden später durchbrach ein braunes Pferd den Kreis der Orks. Auf ihm saß ein komplett braun, aber äußerst seltsam gekleideter Mann, der in der rechten Hand einen langen, oben verzierten Stab hielt. Sein brustlanger Bart war ebenso braun wie seine irr funkelnden Augen, die beinahe angsteinflößend wirkten. Irgendwie kam dieser Mann ihr bekannt vor und offenbar war sie damit nicht allein.
"Radagast", zischte der Anführer der Orks durch seine Zähne. "Diesmal wirst du uns nicht entkommen. Rad mat-lat, sharkû."
"Was auch immer das bedeuten soll, ich denke nicht", antwortete Radagast. "Diesmal bin ich schließlich nicht gekommen, um euch auf der Nase herumzutanzen, sondern um euch eine Botschaft zu überbringen."
"Botschaft?" Die Orks wirkten nun sichtlich verwirrt.
"Eine Botschaft von Thranduil, dem König dieses Waldes", fuhr Radagast fort.
Wieso schickte Thranduil den Orks von Dol Guldur eine Botschaft? Auch Tauriel verstand langsam überhaupt nichts mehr.
"Er lässt euch allen schöne Grüße ausrichten, hofft, dass ihr alle, besonders eine gewisse Tauriel", Radagast zog die Augenbrauen hoch und sah sie intensiv an, "wohlauf und bereit seid."
"Bereit?", fragte Tauriel verwirrt. "Bereit wofür?"
"Ich denke, er meint damit seinen bevorstehenden Angriff", sagte Radagast gelassen. In diesem Moment bohrte sich ein silberner Pfeil in den Schädel des Ork-Anführers.

Der letzte Silmaril: Morgoths ErweckungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt