XXIII

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Eldarion, der zweite Hochkönig von Gondor und Arnor, saß auf einem gepolsterten Stuhl auf dem obersten Stadtring von Minas Tirith. Hinter ihm ragte der weiße Baum Gondors auf, der in den letzten Tagen genau wie Eldarion sichtbar an Kraft und Stärke verloren hatte. Die Dunkelheit über ihnen machte beiden schwer zu schaffen. Morgoths Wolkendecke bedeckte den ganzen Himmel soweit das Auge reichte, nur direkt über der Stadt klaffte noch eine große Lücke in den Wolken. Jeden Tag am späten Vormittag sandte die Sonne eine wenige, wärmende Strahlen durch dieses Loch auf die weiße Stadt hinab, doch selbst diese beleuchtete Zeit wurde von Tag zu Tag kürzer und Eldarion und der Baum wurden von Tag zu Tag schwächer. Zu den Füßen des Königs, hinter der Brüstung lag der Pelennor, der in den letzten Wochen komplett umgestaltet wurde. Am Ufer des Anduin, an der Grenze des Pelennor, war eine feste Mauer mit einem einzigen Tor aus starkem Holz errichtet worden. Direkt hinter dieser Mauer standen einige behelfsmäßige Türmchen und Unterkünfte für die zahlreichen Soldaten, zudem einige steinerne Abwehrtürme. Weiter an der Stadt erstreckte sich ein zweiter Mauerring zwischen den Bergen im Norden und Süden, in diesem waren drei Tore eingelassen worden. Unmittelbar dahinter lag eine riesige Zeltstadt, in der über fünfzehntausend Flüchtige aus den umliegenden Gegenden, aber auch aus Moria, den Eisenbergen und Rohan wohnten. Diese reichte bis zu den äußersten Mauern Minas Tiriths. Immer noch war Eldarion erstaunt ob der Leistung, die die Männer aus Gondor und Rohan und die unzähligen Zwerge aus allen Gegenden Mittelerdes in diesen wenigen Wochen hier aufgebaut hatte. Der König wusste, dass auch diese Vorrichtungen die Heere Morgoths nur für kurze Zeit aufhalten konnte, doch jede Sekunde, die sie gegen den dunklen Feind gewannen, war wertvoll. Er seufzte auf. Erinnerungen kamen hoch, an den Tag, als sein Vater Aragorn ihn, Eldarion, an sein Sterbebett rief.
"Für diesen Frieden haben wir lange kämpfen müssen. Es ist deine Aufgabe, ihn zu bewahren."
Eldarion hatte seinem Vater das Versprechen gegeben, alles für den Frieden zu tun. Er hatte versagt, Frieden gab es nicht mehr. Seine Gedanken drückten seine Schultern noch tiefer gen Boden, doch plötzlich wurde er aus den düsteren Überlegungen gerissen.
"Mein König?"
Cugulim stand vor ihm und sah ihn erwartungsvoll an, neben ihm zwei Wachmänner, einer auf jeder Seite.
"Bote des Königs, was ist dein Anliegen?", fragte Eldarion müde.
"Unsere Späher berichten, dass sich von Osten mehrere Hundert Elben nähern, unter ihnen sollen sich auch die Fürsten von Rhovanion und Lothlórien, Thranduil und Celeborn befinden", berichtete Cugulim. ,"In wenigen Minuten werden sie das äußere Tor passieren."
Erleichtert atmete der Hochkönig auf. Das Elbenvolk war bis zuletzt neben den Hobbits als einziges nicht eingetroffen. Dass mit Thranduil und Celeborn auch die beiden Gefährten der Sieben am Leben waren, machte diese Nachricht noch angenehmer. Der Plan, der in ihm in den letzten Tagen gereift war, wurde immer besser durchführbar.
"Wir sollten ihnen einen gebührenden Empfang bereiten", meinte der König. "Cugulim, nimm deine Aufgabe als Botschafter des Königs wahr und empfange unsere Gäste an der zweiten Mauer. Führe die Fürsten zu mir, ich möchte sie persönlich im Thronsaal empfangen."
Cugulim nickte und verneigte sich. "Ich danke euch für die Ehre, die ihr mir damit erweist, mein König."
Eldarion tat den Dank mit einem Nicken ab, dann wandte er sich an einen Wachmann, der bei ihnen stand. "Sorge dafür, dass die ankommenden Elben untergebracht und verpflegt werden, sie werden eine lange Reise hinter sich haben."
Dann überkam ihn ein schwerer Hustenschwall und der König sank noch etwas erschöpfter in den Stuhl zurück.
"Sehr wohl, mein Herr", sagte der Wachmann unterwürfig, jedoch mit leicht besorgtem Unterton in der Stimme.
"Cugulim, ich habe eine letzte Bitte an euch", meinte der König an den Boten.
"Sprecht es aus, Herr, ich werde es befolgen", antwortete Cugulim und verneigte sich abermals.
"Schicke die drei Zauberer zusammen mit den Elbenfürsten zu mir, außerdem Tingilya und meine beiden Kinder sowie den König von Rohan und Durin VII.", wies Eldarion ihn an. "Es ist an der Zeit, Rat zu halten."
"Es wird geschehen, Herr", meinte Cugulim, verbeugte sich und trat ab. Eldarion hingegen starrte weiterhin auf den Pelennor hinab, in Gedanken schon wenige Tage in der Zukunft, mit einer von Orkscharen schwarz gefärbten Ebene.

Die Ruinen Osgiliaths, die sie soeben durchritten, waren still, fast bedrohlich. Thranduil saß, angespannt bis auf den kleinsten Muskel, auf seinem Schimmel, bereit, jeden Moment sein Schwert oder seinen Bogen zu zücken und einen auftauchenden Feind zu erledigen. Nun überquerten sie auf einer der wenigen noch nicht eingebrochenen Brücken den Anduin, Celeborn und Thranduil voraus, ihnen hinterher über zweitausend elbische Soldaten. Nahezu alle Elben Mittelerdes hatten sich auf ihre wahrscheinlich letzte Reise begeben, die sie ins entscheidende Gefecht in die weiße Stadt Minas Tirith führen würde. Das Westufer der einstigen Hauptstadt Gondors war nicht minder zerstört, nur noch ruhiger und unheimlicher. Immer wieder schnaubte Thranduils Pferd auf, auch das des Fürsten Celeborn verhielt sich seltsam. Ihnen war diese Stadt wohl genauso unheimlich wie ihm und der Duft nach Orkleichen tat sein Übriges. Thranduil war drauf und dran, den ganzen Tross umkehren zu lassen, als er vor sich etwas erkennen konnte. Es war grau, so wie die anderen Ruinen um ihn herum, doch deutlich weiter entfernt und nicht so schmutzig, auch sah es nicht aus wie eine Ruine. Je näher sie herankamen, desto größer und gewaltiger erschien das Bauwerk, schließlich überragte es selbst die höchsten Türme Osgiliaths. Sie hatten den Pelennor erreicht und nun konnten sie erkennen, dass es sich bei dem Bauwerk um eine gewaltige Mauer handelte. Sie war rund vier Meter hoch und aus zurechtgeschlagenen Steinen aufgetürmt worden, so genau und akkurat wie es nur zwergische Baumeister können. Mitten in der Mauer prangte ein gewaltiges, zweiflügliges Tor aus dunklen Holz, das mit Eisenstreben verstärkt war. Links und rechts davon erhoben sich auf der Mauer zwei Wachtürme, hinter der Mauer standen ein Dutzend weitere Türme. Thranduil hatte gar keine Zeit, sich über dieses Bauwerk zu wundern, denn in diesem Moment öffnete sich das Tor und gab den Blick frei auf eine weitere Mauer, doch vor allem auf die Stadt. Muss Tirith lag in einem Sonnenstrahl glänzend da, thronend über ganz Mittelerde, wie es schien. In diesem Moment war es für Thranduil unmöglich, dass der Feind diese Festung jemand einnehmen könnte. Während er noch staunte, hörte er von vorne ein leises Hufklackern. Neun Reiter kamen auf sie zugeritten, der Vorderste trug das schwarze Banner mit dem weißen Baum Gondors darauf. Alle trugen die Rüstung mit dem Baum darauf, der sie als Soldaten Gondors kennzeichnete. Thranduil und die anderen Elben ritten ihnen entgegen, unter dem Torbogen trafen sie sich. Der vorderste Reiter, der das Banner trug, zog seinen Helm ab und enthüllte ein scharf geschnittenes Gesicht mit wirren, schwarzen Haaren und eisblauen Augen.
"Seid gegrüßt, Fürsten der Elben aus Lothlórien und Rhovanion", meinte der Reiter und verbeugte sich. "Im Namen meines Herren Eldarion, des zweiten Hochkönigs von Gondor und Arnor darf ich euch als sein Bote Cugulim in Minas Tirith willkommen heißen."
"Selten zuvor war ich so froh, neun schwarz gekleidete Reiter zu sehen", meinte Thranduil lächelnd.
"Wir danken euch für die freundliche Aufnahme", sagte Celeborn und verneigte sich ebenfalls.
"Nun, ich fürchte, es ist nicht viel Zeit zu verlieren", meinte Cugulim. "Meine Männer werden den Rest eures Heeres und dessen Pferde an einen Ort bringen, an dem sie sich ausruhen und stärken können. König Eldarion erbittert derweil eure Anwesenheit bei einer Ratssitzung im Thronsaal."
"Wir werden dieser unverzüglich beiwohnen", sprach Celeborn.
"Dann werde ich euch dorthin geleiten", sagte Cugulim. "Ihr werdet sehen, in den Wochen seit eurem letzten Besuch hier hat sich in Minas Tirith einiges getan. Doch nun folgt mir! Des Königs Zeit ist letztens knapp genug bemessen."

Der letzte Silmaril: Morgoths ErweckungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt