XXVIII

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Ein einzelner Sonnenstrahl durchbrach die dichte Wolkendecke über Minas Tirith und bahnte sich seinen einsamen Weg hinab auf die Weiße Stadt. Wie die Sonne selbst, die seit Tagen größtenteils von den dunklen Wolken verhüllt war, wanderte er langsam von den Ufern des Anduin über die Mauern und Ringe Minas Tiriths hinweg, bis der Strahl sich schließlich im nun dürren, blattlosen Geäst des weißen Baumes von Gondor verlor und wieder hinter den fast schon schwarzen Wolken verschwand. Gerade als dieser tägliche Vorhang vorüber war, trat Cugulim aus dem Thronsaal und auf den großen Platz auf der höchsten Ebene der Weißen Stadt. Der Lärm der Schlacht, die viele Meilen von ihm entfernt auf Fuße des Pelennor stattfand, war hier nur schwach zu hören, ansonsten war es jedoch vollkommen still. Mit schnellen Schritten überquerte er den Platz, sodass er nach kurzer Zeit am Ende des großen Keils, der von oben bis unten mitten durch die Stadt verlief. Er brauchte einige wenige Augenblicke um seine Augen an die Ferne zu gewöhnen, dann blickte er auf das noch weit entfernte Schlachtfeld vor ihm. Viel war aus der Ferne nicht zu erkennen, doch die Größe der Heerscharen Morgoths war selbst von hier aus gewaltig. Eine schwarze Masse, die sich an die Mauer drängte, anrannte und dagegenschlug wie eine schwarze Welle, die den Anduin verließ und an einigen Stellen die Mauer bereits überwand. Cugulim hatte nicht erwartetet, dass die Elben dem Angriff so lange, nun schon fast acht Stunden standhalten würden, dennoch leisteten sie tapfer Widerstand. Viele Nachrichten von der Front erreichten sie nicht und deshalb wusste keiner hier oben, wie lange die äußerste Verteidigungslinie noch halten würde. Schritte halten hinter ihm über den steinernen Boden Minas Tiriths und kurz danach trat Alatar, der Istari neben ihn.
“Wer hätte gedacht, dass wir schon so bald dem Tod wieder ins Auge sehen würden?“, fragte Cugulim und sah den Zauberer an. Alatars Blick war starr nach vorne gerichtet, hin zu der Schlacht in der Ferne.
“Dem Tod begegnen wir überall, immer, jeden Tag, besonders in diesen dunklen Zeiten“, antwortete Alatar und seufzte. Dann sah er Cugulim aus seinen unergründlichen grauen Augen an. “Auch wenn wir den morgigen Abend wohl nicht mehr erleben werden, dürfen wir nie den Mut und die Hoffnung verlieren, Cugulim.“
Ein Lächeln umspielte die Lippen des Zauberers. “Ich sehe, dass die Elben den Geschöpfen der Unterwelt standhalten.“
“Ja, es sieht, zumindest wenn man es an unseren Erwartungen misst, recht gut aus“, meinte Cugulim.
“Und dennoch habt ihr ein ungutes Gefühl, nicht wahr?“, fragte Alatar und zog eine Augenbraue nach oben.
“Ich weiß nicht“, entgegnete Cugulim. “Auch wenn die Schlacht nicht schlecht aussieht, bemächtigt sich doch ein Schatten meiner selbst.“
“Sei gewiss, dass du nicht der Einzige bist, der dieses Gefühl in sich trägt“, meinte Alatar nachdenklich. “Ich fürchte, uns werden Nachrichten ereilen, die wir niemals so erwartet hätten. Der Einfluss des Dunklen Herrschers reicht weiter als jemals zuvor und die, die uns in diesem Kampf zur Seite stehen, können uns im nächsten Gefecht das Schwert in den Rücken rammen. Vertraue niemanden zu sehr, Cugulim, denn Morgoths List und Tücke lässt keinen kalt, ganz gleich ob Zauberer, Hobbit, Zwerg, Mensch oder Elb. Solange der Schatten des Bedrückers über Mittelerde schwebt, ist kein Band fest genug, um nicht zerreißen zu können.“
“Ihr sprecht von Verrat“, sagte Cugulim kühl.
“Ich spreche von Neid, Missgunst, ja sogar von Hass in den Herzen aller“, antwortete Alatar und wandte seinen Blick wieder auf das Schlachtfeld. “Das alles kann sich Morgoth zunutze machen, also achte darauf, dass sein Schatten sich nicht sich deiner bemächtigt.“
“Niemals werde ich zu einem Gefolgsmann dieses Scheusals werden“, entgegnete Cugulim bestimmt, fast schon hitzig.
“Nein“, meinte Alatar. “Nein, das wirst du nicht.“ Plötzlich verengten sich die Augen des Istari, nur um sich kurz darauf vor Schreck zu weiten.
“Was habt ihr?“, fragte Cugulim, erhielt jedoch keine Antwort. Stattdessen wandte auch er seinen Blick an den Rand des Pelennor, an dem die Schlacht weiterhin tobte. Zuerst konnte er nichts erkennen, bis sich etwas feuerrot Glühendes von der dunklen Silhouette der Berge abhob. Cugulim versuchte mit aller Macht, Genaueres zu erkennen, doch mehr als ein undeutlicher, flammenähnlicher Umriss war nicht zu sehen.
“Komm“, sagte Alatar. Seine Stimme klang kalt und der Bote Gondors meinte sogar eine Spur Angst aus dem einen Wort, dass Alatar gesprochen hatte, herauszuhören. Der Istari wandte sich um und ging rasch über den Platz, direkt auf das Tor des Thronsaals zu. Cugulim beeilte sich mit Alatar Schritt zu halten und als er neben ihm ging, konnte er sich nicht mehr zurückhalten.
“Was ist das?“, fragte er, erstaunt über die plötzliche Eile, die der Zauberer an den Tag legte.
Alatar antwortete ihm ohne ihn anzusehen oder seine Schritte zu verlangsamen. “Dies, mein junger Freund, ist ein oder wahrscheinlicher mehrere Balrogs.“
“Balrogs?“, fragte Cugulim verwundert, auch wenn er sich sicher war, dieses Wort bereits vor langer Zeit einmal gehört zu haben.
“Balrogs sind Wesen aus der Welt jenseits des Meeres, die sich damals, in den Ältesten Tagen, Morgoth anschlossen und ihm dienten“, erklärte Alatar. “Die meisten von ihnen wurden beim Fall des Dunklen Herrschers ebenfalls ausgelöscht, doch einige sollen in dieser Welt überlebt haben.“
“Was hat es zu bedeuten, dass diese Balrogs in die Schlacht eingreifen?“, fragte Cugulim. Inzwischen hatten sie das Tor des Thronsaals erreicht. Langsam drehte sich Alatar zu ihm um und sah ihm in die Augen.
“Es bedeutet, dass und weitaus weniger Zeit bleibt als wir dachten.“
Dann drehte sich der Zauberer um und betrat den Thronsaal.

“Plinnie!“
Thranduils Schrei schallte über die äußeren Mauerwerke des Pelennor und zweihundert Bogensehnen antworteten auf seinen Ruf. Die Lage an der Front war mehr als angespannt, vor allem seit der Entdeckung der drei riesigen Balrogs, die am Rande des Gebirges, gefolgt von einem weiteren riesigen Heer auf die Mauern des Pelennor zuhielten. Zwar war jedem Elb, der noch bei klarem Verstand war, durchaus bewusst, dass es noch Stunden dauern würde, bis diese uralten Dämonen auch nur in die Nähe der äußeren Verteidigungsanlagen kommen würden, doch der bloße Anblick dieser Kreaturen, die älter waren als fast jeder der hier versammelten Elben, hatte bei vielen der elbischen Krieger den Mut sinken lassen. Zwar hielten sie sich nun seit vielen Stunden tapfer gegen den Feind, doch schon bald würden die Orks die Mauer, die sie an vielen Stellen bereits erstürmt hatten, endgültig einnehmen. Thranduil wich einem der unzähligen Armbrustbolzen aus, die zwar sehr häufig, dafür aber äußerst ungenau hier oben eintrafen. Er wusste, bald war seine Zeit gekommen. Als er eben einen neuen Pfeilhagel auf die Orks herabrief, trat Aradreth, die Starthalterin von Bruchtal, neben ihn und fuhr sich mit einer Hand durch ihre tiefschwarzen Haare. Wie die meisten elbischen Kommandanten trug sie keinen Helm, dafür eine aufwendig verzierte Rüstung. Noch bevor sie ihren Mund öffnete, ahnte Thranduil bereits, was sie ihm sagen wollte.
“Es ist an der Zeit für euch, die vordersten Reihen des Kampfes zu verlassen, Herr“, meinte sie und sah ihn an. Ihre bernsteinfarbenen Augen blickten kühl und standhaft in die seinen, doch dahinter lag eine versteckte Traurigkeit, die der Elbenfürst nicht ganz deuten konnte.
“Ich weiß, Aradreth, ich weiß“, sagte Thranduil und seufzte leicht.
“Euer Pferd steht bereit und ich bin mir sicher, auch Herr Celeborn ist bereits auf dem Weg“, fuhr sie fort.
“Ich danke dir, Aradreth, für alles, was du für mich getan hast“, sagte Thranduil lächelnd, während in Aradreths Augen kleine Tränen glänzten.
“Berio le i -“, sprach sie den Gruß, bis ihre Stimme versagte und ihr Körper zusammensackte. Schnell streckte sie ihre Arme nach Thranduil aus und er fing sie auf. Geschockt sah er auf den Bolzen, der tief zwischen ihren Rippen steckte. Nach einem Blick war Thranduil klar, dass er hier nichts mehr tun konnte. Der Bolzen hatte ihr Herz durchbohrt.
“Geht... mein König...“, sagte Aradreth stockend, dann brach ihr Atem ab.
“I galad en elenath nadh râd gîn“, sprach Thranduil, dann drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn und schloss ihre Augen, wobei er eine heiße Träne bemerkte, die von seinen Augen in Aradreths Haar tropfte. “Leb wohl.“
Auch wenn er gerne die aufkommende Wut und Trauer abgeschüttelt hätte, wusste er, dass sein Abschied nun längst überfällig war. Ein Blick über die beschäftigte Brüstung des Turmes verriet ihm, dass einige Orks bereits die Ebene zwischen der Mauer und den zwölf Türmen überquerten. Der erste Mauerring war gefallen. Thranduil warf einen letzten Blick auf den erschlafften Körper seiner langjährigen Gefährtin und wieder hielt er seine Gefühle auf Abstand. Er hatte nun keine Zeit zu trauern. Schnell zog er sein Schwert aus der Scheide, dann rannte er die Stufen des Turmes hinab.

Der letzte Silmaril: Morgoths ErweckungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt