XVI

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Als Iodaìn und Wethrína den Palast des Waldlandreiches durch das kleine Südtor betraten, war es komplett still. Kein Wind, der in den Blättern rauschte, nicht das Tosen des Baches oder das Zwitschern der Vögel war zu hören. Es war still, so still, dass sie nicht einmal die Geräusche ihrer Schritte oder ihres Atems wahrnahmen. Es war eine unheimliche Stille, die den ehemals so schönen, friedlichen, aber geschäftigen Ort eingenommen hatte. Reflexartig griff die Elbin nach der Hand ihres Freundes und verschränkte ihre Finger mit den seinen.
"Komm", flüsterte Iodaìn leise, dann traten sie gemeinsam durch das Tor an der Südseite des Palastes in dessen gewaltige Hallen ein. Auch hier war es still, doch hier, im Palast selbst, hatte sich einiges verändert. Gegenstände lagen zerbrochen auf dem Boden, Pfeile steckten in den Wänden und in den toten Körpern auf dem Boden. Es waren recht wenige Leichen, waren durch zum Zeitpunkt des Angriffs nur etwa zweihundert Elben im Palast gewesen. Offenbar hatte keiner überlebt. Hier, in der südlichen Eingangshalle konnte Wethrìna die Leichen von siebzehn Elben und neun Orks zählen. Auch wenn die toten Körper den Verwesungsspuren nach seit mindestens zwei Tagen hier liegen mussten, gab es keinerlei Hinweise darauf, dass sie in irgendeiner Form angerührt worden waren. Schwerter, Schilde und Bögen lagen auf dem Boden verteilt und zeugten vom Kampf, der hier stattgefunden hatte. Als Iodaìn eine der elbischen Klingen aufhob, etwas von dem klebrigen Blut an seine Finger nahm und daran roch, stach ihm der Gestank von Orkblut in die Nase, die ganze Klinge war damit verschmiert. Vorsichtig zog er sein eigenes Schwert, bedacht darauf, die Stille nicht mit einem lauten Geräusch zu durchdringen. Er spürte, dass die Orks nicht weit waren, auch wenn er sie nirgendwo sehen konnte.
"Bleib dicht hinter mir", flüsterte er der blonden Jägerin zu. Auch sie zog ihr Schwert und gemeinsam schlichen sie leise und schnell in die angrenzende Kammer, wo sie wieder Leichen fanden. Wie eine tote Spur zogen sich die toten Körper durch die Räume, wie ein roter Faden standen kleine, getrocknete Rinnsale aus Blut zwischen den einzelnen Räumen. So setzen sie ihren Weg fort, immer weiter, bis sie schließlich im Thronsaal angekommen waren. Dieser war als einziger Raum komplett frei von Leichen und sah so normal aus, dass Wethrìna nur darauf wartete, dass König Thranduil gleich den offenen Raum betreten würde. Wenn hier jemals Blut vergossen worden war, war es längst nicht mehr zu sehen. Der Boden glänzte und der in einen gewaltigen Baumstamm eingelassene Thron stand würdevoll da, bereit, den Herrn über ganz Rhovanion auf sich ruhen zu lassen. Beide wussten, dass er nicht kommen würde, dass er diesen Thron womöglich nie wieder sehen geschweige denn besteigen würde. Hier nun, im Herzen des Palastes, vernahmen sie zum ersten Mal wieder Geräusche. Das leise Rauschen des Flusses in den Tiefen des Waldes war fast beängstigend, so erdrückend war die Stille zuvor gewesen. Sonnenstrahlen bedeckten den hölzernen Thron und direkt hinter ihnen begann ein Vogel zu pfeifen. Schnell drehten sie sich um und konnten zuerst ihren Augen nicht trauen, als sie einen kleinen, etwas lächerlich gekleideten Mann sahen. Seine Kleidung und sein Bart waren braun und auf seinem Kopf saßen drei Vögel, von denen einer ein Lied sang.
"Nicht jetzt", zischte Radagast der Braune, der Zauberer aus dem Süden des Düsterwaldes und schwang seinen ebenso braunen Hut auf den Kopf. "Ihr müsst sofort weg hier", meinte der Zauberer nervös, während er sich auf seinem langen Stab abstützte. "Die Orks sind ganz in der Nähe und wenn wir nicht bald verschwinden, sind sie sogar für meine Kaninchen zu schnell."
"Was ist hier los?", fragte Wethrìna verwirrt. Die Tatsache, dass der offensichtlich leicht verrückte Zauberer (gerade wischte er sich einen Fleck Vogelkacke aus dem Bart) hier aufgetaucht war, konnte diese Verwirrung kein bisschen lindern.
"Ein Zauber, ziemlich mächtig, auch wenn ich nicht weiß, woher die Orks das können", erklärte Radagast und zupfte an seinen schulterlangen, wild zerzausten Haaren. "Er verschluckt sämtliche Geräusche und verbirgt ihre Gegenwart."
"Das bedeutet, die Orks sind hier?", fragte Iodaìn erschrocken.
"Weshalb ich die ganze Zeit mit euch verschwinden will", sagte Radagast. "Hmpf. Sie wollen, dass ihr denkt, der Palast sei verlassen. Dann kommt König Thranduil mit seinen ganzen Elben her und puff! Alle tot."
"Das ist eine Falle!", erkannte Wethrìna.
"So bezeichnet man das bei den Menschen, ja", meinte Radagast. "Also raus hier! Rasch!"

Alassen schwang sein Schwert in hohem Bogen und trennte den Kopf der Übungspuppe vom Rest ihres Körpers. Er atmete einmal aus und strich sich über die Augen. Seit über zwei Wochen, seit seiner Hochzeit mit Tingilya und deren abruptem Ende hatte er kaum geschlafen und außer Training im Schwertkampf kaum etwas getan. Er aß nur sporadisch, doch er legte jeden Tag dutzende Übungspuppen um. Fast die ganze Zeit verbrachte er im Schwertkampftraining, so auch jetzt. Er wirbelte herum und wollte soeben die nächste Puppe attackieren, als seine Klinge abgefangen wurde. Ein leicht gekrümmtes, silbern glänzendes und am Griff verziertes Schwert kreuzte seine Bahn. Als er den Armen, die den Griff der Klinge umfassten, bis ins Gesicht folgte, sah er in das hübsche Gesicht seiner Frau, Tingilya. Ihr hellbraunes Haar lag offen auf ihren Schultern und ihre grünen Augen fixierten die Seinen. Sie ließ sein schwarzes Schwert an ihrer Klinge abgleiten und schlug es ihm mit einer schnellen und geschickten Bewegung aus der Hand. Klappernd landete Gurthang, das schwarze Schwert, einen halben Meter rechts vom Prinz Gondors auf dem Boden und als er sich danach bückte, um es aufzuheben, schob sich Tingilyas Elbenklinge dazwischen.
"Nein", sagte sie mit fester, bestimmter Stimme. "Lass das Schwert liegen, wo es ist."
Dann richtete sie ihr eigenes Schwert auf seine Brust. "Ich habe eine Nachricht für dich, Alassen." Sie zog seinen Namen verächtlich in die Länge. "Dein Vater schickt nach dir, du sollst zu ihm kommen."
"Mein Vater weiß, wo er mich findet", sagte Alassen bissig. "Ich habe keine Zeit."
"Dein Vater wäre vor wenigen Minuten beinahe gestorben!" Tingilyas Stimme hallte durch den Raum, ihr Gesicht war so wütend wie schon lange nicht mehr. "Um ein Haar hättest du deinen Vater verloren, Alassen." Ihre Stimme brach und sie sah zu Boden. Geschockt starrte Alassen sie an. Mit einer solchen Nachricht hatte er nicht gerechnet.
"Was starrst du mich so an?!", schrie sie völlig außer sich. Erste Tränen rollten über ihre Wangen und ein leiser Schluchzer entwich ihrer Kehle. "Was ist los mit dir, Alassen?"
Er antwortete nicht, er konnte es nicht. Er hatte keine Antwort.
"Lass mich dir helfen", sagte Tingilya, nun fast flüsternd, die Stimme von Tränen erstickt. "Ich liebe dich doch, Alassen. Du weißt doch, dass ich dich liebe."
Perplex öffnete Alassen seine Arme und drückte Tingilya ganz nah an sich. Was war mit ihm passiert, dass er es geschafft hatte, Tingilya, die Frau, die er so sehr liebe, zum Weinen gebracht zu haben? Sie schmiegte sich an ihn, kuschelte ihren Körper ganz nah an seinen.
"Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst", sagte sie leise und sah ihm tief in die Augen.
"Ja", antwortete er mit brüchiger Stimme. "Ja, ich weiß es."
"Dann sag es mir, Alassen. Lass uns miteinander reden, wie wir es noch vor drei Wochen getan haben. Vertraut." Sie machte eine kurze Pause. "Du isst nichts, du schläfst kaum. Was bedrückt dich?"
Alassen antwortete erneut nicht.
"Es sind deine Ängste, nicht wahr?" Tingilya sah ihn an und er ging in ihren grünen Augen wie in hohem Gras sanft unter. "Es sind die Ängste, deinen Vater zu verlieren. Die Ängste, dass du dieser Aufgabe nicht gewachsen bist. Ich weiß es, Alassen. Du brauchst dich nicht verschließen."
Sanft strich ihre Hand über seine Wange, an der eine einzelne Träne herunterlief. Tingilya strich die Träne sanft beiseite, dann sah sie ihm wieder in die Augen.
"Du... du hast recht, Tingilya", antwortete der Prinz und schluckte. "Meine Ängste... sie lassen mich nicht los. Sie kommen in der Nacht, am Tag, zu jeder Zeit. Sie stürzen mich in Dunkelheit, in die Schwärze meiner Seele. Ich kann sie nicht besiegen."
"Doch, das kannst du", sagte Tingilya sanft, aber bestimmt. "Wir können das."
Ihre grünen Augen, die den Kontakt mit seinen suchten, waren so voller Herzlichkeit, Wärme und Liebe, dass Alassen gar nicht anders konnte, als ihr zu glauben. Wie hatte er diese Frau, seine Frau, Tingilya, in den letzten Tagen und Wochen nur so vernachlässigen können?
"Komm, Alassen", sagte Tingilya zärtlich und löste sich aus seiner Umarmung. "Bringen wir dich zu deinem Vater."
Dann drückte sie ihm einen Kuss auf den Mund, nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm zur Tür hinaus. Zurück blieben ein schwarzes Schwert und eine kaputte Übungspuppe, Zeichen des Leidens, zurückgelassen vom Liebenden.

Der letzte Silmaril: Morgoths ErweckungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt