9. Kapitel

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Kaela

Mit den ersten Sonnenstrahlen machte ich mich auf den Weg. Ich schwamm durch den Fluss, der zum Glück keine starke Strömung hatte. Dann war ich im Kowshi-Territorium. Hier kannte ich mich aus. Ich war endlich zu Hause! Ein glückliches Lachen entfuhr mir und ich rannte los. Schneller und immer schneller!

Mein Lauf endete, als ich den Baum sah. Der Baum, an dem das Netz mit dem Tiger gehangen hatte. Das Netz, mit dem alles begonnen hatte. Kurz empfand ich Traurigkeit. Hätte ich Naksa - nein Askan - die Chance geben müssen, sich zu erklären? Nein. Was gab es da groß zu erklären? Er war ein Monster in Tigergestalt. Ein Gestaltwandler, der seine eigene Mutter getötet hatte. Vielleicht nicht mit Absicht, aber dennoch hatte er es getan.

Askan hatte meinem Stamm großes Leid zugefügt. Die Stammesführerin getötet, den Stammesführer in den Wahnsinn getrieben und er war Schuld am Tod vieler Stammesleute. Er war kaltblütig und brutal. Askan hatte kein Ehrgefühl. Es war besser, dass ich gegangen war. Wer wusste, ob er mich nicht auch bald hätte töten wollen?

Und doch quälte mich diese eine Frage: Wenn er so kalt und skrupellos war, wieso hatte ich mich so sicher bei ihm gefühlt? Wieso hatte sein Lachen am Ende so ehrlich geklungen und warum schien es manchmal so, als hätte er sich Sorgen um mich gemacht?
Ich würde es wohl nie wissen.

"Kaela!", ein Freudenschrei drang an mein Ohr. Ich drehte mich um und erblickte meine beste Freundin Aleika
"Du bist wieder da! Wir haben uns alle Sorgen um dich gemacht! Wo warst du und wie sieht du überhaupt aus?!", wurde ich von ihr begrüßt als sie mich erreichte.

"Das ist eine lange Geschichte", wich ich aus. Dann sah ich an mir herunter. Mein eigener Anblick erschreckte mich. Ich war dünner geworden, hatte dafür aber ordentlich Muskelmasse angelegt. Mein Haar war zerzaust und stumpf. Die Kleidung, die ich trug, sah auch nicht besser aus: Abgetragen und rissig. Außerdem war ich schmutzig.

"Na dann komm mit! Die Geschichte wollen bestimmt alle hören", mit diesen Worten zog Aleika mich in Richtung Dorf.
"Wo ist denn dein Begleiter, Aleika?", fragte ich. Normalerweise wurden die Frauen unseres Dorfes zu ihrer eigenen Sicherheit immer von einem Krieger begleitet, wenn sie das Dorf verließen. Ich hatte mich dank meines Status als zukünftige Stammesführerin zum Glück oftmals davor drücken können
"Oh, warte hier, ich hole ihn. Hab ihn ganz vergessen", grinste meine Freundin und rannte davon. Das war Aleika. Immer mit den Gedanken woanders.

Während sie weg war, überlegte ich, was ich erzählen sollte. Ich entschied mich für eine Kurzversion. Das ich entführt worden war von den Siedlern, aber fliehen konnte. Das ich mich verlaufen hatte und länger gebraucht hatte, um zurück zu finden. Das war gar nicht mal gelogen. Askan würde ich mit keinem Wort erwähnen.

Aleika kam zurück. Neben ihr schlenderte mein Freund aus Kindertagen, Dastan. Als er mich sah, blieb er überrascht stehen.
"Kaela, du bist wirklich wieder da!", erklang es ungläubig, "ich dachte Aleika hätte nur wieder fantasiert!"
"Hey!", kam es von eben dieser.

Zusammen gingen wir zurück zum Dorf. Als wir es betraten entstand ein Tumult. Die Nachricht meiner Rückkehr wurde von einem zum anderen weitergegeben. Kurz darauf drängten sich meine Eltern und meine kleine Schwester durch das Gedränge. Wir umarmten uns glücklich.
"Oh mein Mädchen, du hast uns so viele schlaflose Nächte bereitet!", erzählte mein Vater und meine Mutter schluchzte: "Wir dachten du wärst tot!". Auch meine kleine Schwester Narami weinte.

"Mir geht es gut!", beruhigte ich sie. "Komm, du musst dich waschen. Du siehst schrecklich aus!", bestimmte meine Mutter. Ich nickte und folgte ihr zu unserer Hütte. Ein Topf Wasser wurde über dem Feuer erwärmt. Damit wusch ich mich, bis ich wieder sauber war. Ich kämmte mein Haar, bis es glänzte. Danach bekam ich etwas Suppe von meiner Mutter. Als es schon dunkel war, versammelten sich alle vor dem Feuer und ich erzählte meine Geschichte. Beinahe hätte ich von Askan erzählt, konnte es aber gerade noch verhindern. Es war besser sie wussten nichts davon. Es würde nur zu Panik führen. Gegen Morgen fiel ich müde ins Bett.

Ich träumte schlecht. Immer wieder wachte ich auf. Und jedesmal hatte ich Angst, Askan mit einem Messer neben mir zu erblicken.

Die nächsten Wochen verliefen ruhig und gleichmäßig. Ich begann mich wieder heimisch zu fühlen und mich zu entspannen. Ich erfuhr, dass ich fast einen Monat fort gewesen war und man verzweifelt nach mir gesucht hatte. Manchmal dachte ich noch an Askan. Doch das wurde mit der Zeit weniger. Das redete ich mir jedenfalls ein. Ich verbannte den Tigerprinzen aus meinem Kopf. Mein Leben verlief wieder in altbekannten Bahnen und das war gut so.

An einem Nachmittag gingen Aleika, Dastan und ich fischen. Es machte Spaß und wir waren sehr erfolgreich. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Dastan ins Wasser fiel. Ein besonders großer Fisch hatte bei ihm angebissen und er konnte ihn nicht halten. Doch statt loszulassen, ließ er sich mit ins Wasser ziehen. Zu allem Überfluss, fing nun auch noch der Monsunregen an. Das seichte Wasser verwandelte sich blitzschnell zu einem reißenden Strom. Der Regen war so dicht, dass man kaum etwas sah.

"Dastan!", riefen Aleika und ich und rannten Flussabwärts. Ich merkte kaum wie ich die Grenze übertrat.

Doch plötzlich blieb Aleika stehen. "Wir können nicht weiter Kaela, das Kowshi-Terretorium endet hier!", rief sie verzweifelt.
"Spinnst du Aleika? Willst du Dastan nur wegen einer Grenze im Stich lassen?!", schrie ich fassungslos zurück.
"Nein, aber, aber ich kann das nicht Kaela! Ich war noch nie außerhalb unseres Territoriums!", klagte meine Freundin. Ich stöhnte genervt und gestresst auf.
"Dann bleib hier!", mit diesen Worten rannte ich weiter.

Doch es kam, wie es kommen musste. Ich rutschte auf dem glitschigen Boden aus und klatschte ebenfalls ins Wasser. Verzweifelt versuchte ich mich zu orientieren und über Wasser zu bleiben. Die Erinnerung an mein letztes Flusserlebnis kam zurück und ich bekam Panik.

Da erblickte ich vor mir einen Gegenstand. Es war ein Baumstamm und daran hielt sich ein verzweifelter Dastan fest. Ich nahm all meine Kraft zusammen und schwamm auf ihn zu. Tatsächlich erreichte ich den Baumstamm und hielt mich ebenfalls daran fest. Zusammen trieben wir weiter den Fluss hinab.
"Was machen wir jetzt?!", rief Dastan. "Wir müssen richtung Ufer paddeln!", antwortete ich laut. Wir versuchten es, doch es war mühsam. Jedes Mal wenn wir dachten, wir hätten es geschafft, wurden wir wieder abgetrieben.

Langsam schwand unsere Kraft und der Wille. Erschöpft gaben wir auf. Plötzlich gab es einen Ruck, und der Baumstamm trieb nicht mehr weiter. "Wir haben uns am Ufer verharkt, das ist unsere Rettung!", rief ich mit neuer Kraft. Ich schaffte es mich vorsichtig auf den Baumstamm hinauf zu hieven. Uns blieb nicht viel Zeit. Der Baumstamm konnte jeden Moment weiter treiben. Ich half auch Dastan auf den Baumstamm hinauf, gleichzeitig versuchte ich ans Ufer zu gelangen. Meine Füße berührten gerade festen Boden, als der Baumstamm sich losriss. Schnell griff ich nach Dastans Arm und zog ihn an Land. Wir hatten es geschafft!

 Der Prinz der TigerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt