Kapitel 11

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Ein warmer Lufthauch traf mich im Nacken und wohlig kuschelte ich mich näher in die angenehme Wärme, die mich umgab. Es war schön morgens so aufzuwachen. Vermutlich hatte sich Stella mal wieder an mich gekuschelt, so wie sie es häufig tat, wenn sie sich alleine fühlte. Nach außen tat sie immer so stark aber innerlich fühlte sie sich ganz anders. Sie wollte die Liebe von ihren Eltern spüren, diese allerdings versuchten sich Stella's Liebe mit teuren Dingen und hohen Checks zu erkaufen. Sie dachten wohl, Stella würde nicht merken, dass sie fast immer alleine Zuhause war.

Leicht verzog ich das Gesicht, als ich an Mr und Mrs Brown dachte. Ich fand, dass die Beiden wirklich sehr unangenehme Menschen waren. Meine beste Freundin hatte so viel besseres verdient. Vorsichtig drehte ich mich um, um einen Arm um Stella legen zu können. Die Augen hielt ich weiterhin geschlossen, schließlich konnte ich schon durch meine Augenlider sehen, wie hell es im Zimmer war und ich hatte gerade keine Lust darauf, ganz aufzuwachen oder auch nur geblendet zu werden von dem Licht.

Langsam legte ich meinen Arm um ihre Schultern und drückte sie an mich, bevor ich damit begann, tröstend über ihr Haar zu streichen. War sie beim Friseur gewesen? Ihre Haare fühlten sich merkwürdig an. Kürzer und lockiger, aber trotzdem noch flauschig. Dennoch fühlte es sich irgendwie falsch an. Einfach nicht nach Stella. Aber wer würde sich denn sonst zu mir legen?

Vielleicht öffnest du einfach mal deine Augen und siehst nach?!

Wieso musste meine innere Stimme eigentlich so gemein sein? Gab es auch innere Stimmen, die nett und aufmunternd waren? Hatten andere überhaupt jemanden in ihrem Kopf, mit dem sie sprachen?

Stella stieß ein zufriedenes Brummeln aus. War sie heiser? Ihre Stimme klang so rau. Langsam aber sicher formten sich in meinem Kopf Erinnerungen heran. Stella, wie ich mit ihr zu Abend aß und wie wir uns abends Gute Nacht sagten. Doch ich war nochmal aufgestanden. Oder hatte ich das nur geträumt? Und wer war noch gleich dieser Junge, dessen Bild mir ständig dazwischen funkte?

Harry! Oh Gott! Das war kein Traum! Du bist immer noch bei ihnen! Öffne deine Augen!

Nur zu gerne kam ich dieser Aufforderung nun nach. Wie ich erahnt hatte, blendete mich das helle Sonnenlicht, das durch das Fenster zu mir schien. Direkt vor mir lag Harry. Es war nicht Stella, so wie ich es am Anfang gedacht hatte. Mein Arm lag immer noch auf ihm. Unsere Nasen waren sich genau gegenüber. Sie berührten sich fast. Eben nur fast, aber egal. Ich konnte seinen Atem trotzdem auf meinem Gesicht spüren. Anders, als ich es vielleicht sonst gemacht hätte, zuckte ich nicht zurück, sondern betrachtete ihn eingehend. Er war wirklich hübsch. Seine Augen waren geschlossen und so konnte man wirklich gut sehen, wie lang und dicht seine Wimpern eigentlich waren. Seine Wangen waren leicht gerötet, seine Lippen voll und seine Haare lagen ihm in sanften lockenartigen Wellen auf dem Kopf. Er sah schon ziemlich heiß aus. Auch seine Muskeln konnte ich nun spüren, da er so nah an mich gepresst war. Hatte er sich an mich gepresst oder war es doch andersrum? Ich war mir nicht so sicher, wenn ich ehrlich sein sollte. Und was war das, was sich da an meine Hüfte stemmte? Es war doch nicht wirklich..., oder? Mein Herzschlag beschleunigte sich. Oh Gott, wäre mir das peinlich, wenn es wirklich das war, was ich dachte was es war.

Es ist das, was du denkst, was es ist, solange du denkst, dass es eine Morgenlatte ist.

Scheiße! Es war das, was ich dachte. Verkrampft kniff ich die Augen zusammen und versuchte mich irgendwie aus dieser merkwürdigen Konstellation zu befreien. Als ich es schließlich auch geschafft hatte, ohne, dass Harry aufwachte, stand ich eilig auf und schlüpfte aus der Tür hinaus. Nein, ich wollte gerade keinen Fluchtversuch begehen, aber ich hatte gestern wohl zu viel getrunken, denn meine Blase machte sich nun bemerkbar. Zögerlich ging ich auf die Tür zu, hinter der sich das Bad, wie Harry es gestern gesagt hatte, befinden sollte. Ich drückte die Klinke herunter und wünschte mir sofort im nächsten Moment, ich hätte es nicht getan. Verdammt! Wieso wurde hier in diesem blöden Haus denn bitte nicht abgeschlossen?

Louis sah mich erst verdattert, dann panisch und schließlich peinlich berührt an. Ich war auf der Stelle erstarrt. Meine Füße bewegte sich keinen Zentimeter mehr. Die Augen hatte ich weit aufgerissen.
„Äh...", machte ich und taumelte nun endlich etwas nach hinten, bevor ich „Entschuldigung", fiepsend nach draußen stürmte und die Tür hinter mir zuschlug.

Meine Beine führten mich quasi direkt nach unten. Außer mir war noch keiner da. Weil ich nicht wusste, was ich nun machen sollte, setzte ich mich auf einen der Hochstühle, die neben der Hochinsel standen. Der Drang aufs Klo zu gehen hatte sich innerhalb dieser wenigen Sekunden verflüchtigt. Der Schreck war immer noch in meinen Knochen verankert. Das Bild von Louis, der gerade nackt, wie Gott ihn schuf aus der Dusche stieg, wollte einfach nicht verschwinden. Ich hatte sein... Ding gesehen! Ich traute mich ja nicht mal, es zu denken. Wie würde ich ihm nun noch in die Augen sehen können?
Mein Kopf war nach unten geneigt. Mit meinen Händen stützte ich diesen ab. Ja, das war nötig. Außerdem war es auch ein wunderbarer Sichtschutz, den ich auch brauchte, als ich plötzlich Schritte auf der Treppe hörte. Ich sendete nur einen kleinen Seitenblick nach recht und konnte sofort erkennen, dass es Louis war, der da gerade in meine Richtung lief. Oh nein!

„Okay, hör zu", begann er, als er vor mir stehen blieb. Wollte er jetzt etwa darüber reden? „Mir ist bewusst, dass das für dich gerade peinlich war und so. Immerhin hast du das sicher bei noch keinem Mann gesehen und so, aber du musst wissen, dass..."
„Was?!", unterbrach ich ihn schockiert. „Denkst du, ich bin Jungfrau?"
Irritiert und beschämt blickte er mich an: „Etwa nicht?"
Ich schüttelte bestimmt den Kopf. Ja, ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, aber Jungfrau war ich trotzdem nicht mehr. Ich war nur betrunken gewesen.
„Okaaay. Peinlich. Trotzdem möchte ich dir sagen, dass es mir Leid tut, dass du das gesehen hast. Ich hätte abschließen müssen, aber ich hab es vergessen. Ich hoffe, dass das nichts verändert. Ich möchte nicht, dass du dich unwohl bei uns fühlst. Jedenfalls nicht noch unwohler, als sowieso schon."

Ich lächelte Louis leicht an. Er schien sich wirklich Sorgen um mich zu machen. Das war ja süß! Er hatte recht, ich fühlte mich recht unwohl, aber zu hören, dass sie das gar nicht wollten, beruhigte mich ein bisschen. Es war schön, ein paar nette Worte zu hören.
„Danke, Louis", erwiderte ich und er schenkte mir ebenfalls ein kleines Grinsen. „Ich versuche mich mit dieser Situation auseinander zu setzen, aber ihr müsst mich doch irgendwo auch verstehen. Die ersten Tage hier ging es mir schrecklich und das lag an euch. Ihr habt mich entführt und ich weiß nicht, was als nächstes passiert."

Meine Stimme klang verzweifelt. Auch Louis schien zu bemerken, wie es mir ging, denn er kam um die Kochinsel herum und umarmte mich fest. Seine Nähe tat mir wirklich gut. Er schien mich zu verstehen und hörte mir zu.
„Darf ich dich ein paar Dinge fragen, Lacy", wollte er schließlich wissen und ich nickte verwirrt.
„Kommt auf die Frage an."

„Okay, wieso zahlen die Browns nicht für dich, wenn du doch offensichtlich in engem Kontakt zu ihrer Tochter stehst?"
Ich zuckte mit den Schultern: „Sie mögen mich nicht. Ich bin nicht wie sie. Sie denken, ich wäre der falsche Umgang für Stella. Aber sie ist meine beste Freundin. Wir passen immer aufeinander auf. Ich würde nie etwas tun, was sie gefährden könnte."
„Was meinst du damit? Du bist nicht, wie die?", er schaute mich verwundert an.
„Ich bin nicht reich oder so. Meine Mutter ist sogar sehr arm. Meinen Vater hab ich nie kennengelernt. Mum ist Putzfrau. Nachdem sie im Teenageralter mit mir schwanger wurde und von Zuhause abgehauen ist, konnte sie ihren Abschluss nicht beenden. Sie hatte keine vernünftige Ausbildung. Sie ist ziemlich verbittert geworden in den letzten Jahren", murmelte ich abwesend, während Louis mich misstrauisch ansah.
„Verbittert?"
„Ja. Umso älter ich wurde, desto klarer schien ihr zu werden, was ihr diese Schwangerschaft alles gestohlen hatte. Ihre Jugend, ihre Familie, die Chance auf eine Karriere. Daran bin ich Schuld. Hätte sie mich nicht behalten, dann wäre sie vielleicht jetzt erfolgreiche Geschäftsfrau oder so was. Jedenfalls hat sie im Laufe der Jahre angefangen, mich dafür zu hassen, dass ich ihr das alles kaputt gemacht habe. An dem Abend, als ihr mich entführt habt, habe ich mich mit ihr gestritten. Immer, wenn wir sauer aufeinander sind, dann bleibe ich bei Stella. Sie ist sowieso immer so alleine, weil ihre Eltern fast nie da sind. Also freut sie sich auch, wenn ich bei ihr bin. Es ist schön, dass Gefühl zu haben, erwünscht zu sein. Weißt du?"

Louis reagierte nicht. Er schien nachdenklich und ein bisschen abwesend. Ob er mir überhaupt zugehört hatte? Schweigend begann er Teewasser aufzusetzen. Ich beobachtete ihn dabei bloß. Als er damit fertig war, drehte er sich wieder zu mir um.

„Du trägst sicherlich nicht die Schuld daran, dass deine Mutter es nicht zu mehr gebracht hat, okay? Sie hätte verhüten müssen, wenn sie sich für ein Kind nicht bereit gefühlt hätte. Damit hast du nichts zu tun. Du warst zu dieser Zeit nicht einmal auf der Welt", erneut umarmte mich Louis und ich lächelte leidlich an seiner Schulter. Es war so nett von ihm, dass zu sagen. Vielleicht hatte er ja auch recht?

Ein Räuspern unterbrach uns: „Was macht ihr da?"
Harry stand neben uns und blickte uns abwartend und... eifersüchtig an.
Louis löste sich von mir und zwinkerte seinem Kumpel verspielt zu: „Das nennt man Umarmung. Solltest du auch mal versuchen."


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