Kapitel 8

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Als ich das Schloss an der Tür umdrehte und hörte, wie es zu klickte, überkam mich eine unendliche Erleichterung. Ich war in Sicherheit. Fürs erste würden sie mich nicht schlagen können. Ich konnte nicht glauben, dass dieser Junge da draußen es gewesen sein sollte, der mir noch vor wenigen Stunden eine geknallt hatte, weil ich, entgegen seines „Befehls", doch einen Ton gemacht hatte. Wie er und seine Freunde wohl darauf gekommen waren, dass ich nicht Stella war? Es konnte ja eigentlich nur über die Nachrichten gewesen sein. Oder hatten sich Stella's Eltern bei ihnen gemeldet? Sie würden nicht für mich zahlen. Sie würden wohl eher dafür zahlen, um mich nicht mehr sehen zu müssen, aber sicherlich nicht, um mich wieder in der Nähe ihrer Tochter zu sehen. Sie hatten mich sowieso schon immer, wie eine Seuche behandelt.

Egal, woher sie es wussten, sie waren nun vermutlich verunsichert und ratlos, wie sie weiter fortfahren sollten. War es dann nicht eigentlich die schlechteste Lösung, mir ihr Gesicht zu zeigen? So war es doch, oder? Wieso hatten sie es dann gemacht? Das konnten sie doch eigentlich nur, wenn ich nicht mehr die Gelegenheit dazu bekommen könnte, sie zu verpetzen.

Scheiße! Untersteh dich, diesen Raum zu verlassen!

Mal wieder musste ich meiner inneren Stimme Recht geben. Ich konnte da nicht raus. Sie würden mich töten. Ganz egal, wie jung oder unschuldig Harry aussah, er war mein Entführer. Vermutlich hatten sie ihn vorgeschickt, damit ich nicht mehr misstrauisch war. Er sah schließlich ziemlich unschuldig aus. Nie im Leben wäre ich, wenn ich ihm in der Stadt begegnet wäre, darauf gekommen, dass er ein schlechter Mensch sein konnte. Und das war er doch. Oder? Ein schlechter Mensch. Sonst hätte er mich nicht geschlagen, geschweige denn mich entführt.

Hör auf über so eine Scheiße nachzudenken! Dazu hast du jetzt keine Zeit. Du solltest viel eher mal darüber nachdenken, wie du denen entwischst!

Hier würde ich jedenfalls nicht raus kommen. Dieses Zimmer hatte kein Fenster. Der einzige Ausgang war die Tür und vor dieser waren meine Entführer. Ich hatte also keine Chance. Ich musste es schaffen, wann anders zu entfliehen.

Wenn du denn dann noch lebst... aber wunder dich nicht, wenn der Mist nicht klappt. Ich will es ja nur mal gesagt haben. Aber schlau ist dieser „Plan" nicht gerade.

Ach.. so ist das also? Jetzt stellst du dich stur? Aha..
Hatte ich gerade wirklich meiner inneren Stimme geantwortet? Oh man! Einsamkeit machte wirklich krank. Und wenn ich es nicht schaffen würde, von selbst du fliehen, müsste ich es eben irgendwie schaffen, sie dazu zu bringen, mich frei zu lassen. Eine andere Wahl hatte ich momentan wirklich nicht.

--- Harry POV ---

Nervös starrte ich auf meine Hände. Ich wusste einfach nicht, was ich denken sollte. Wenn unser sogenannter Plan nicht funktionieren würde und sie nicht anfangen würde, uns zu vertrauen, wäre alles sinnlos. Ich wollte dieses Mädchen nicht töten oder sie verletzen. Wieso konnten diese verdammten Eltern nicht einfach zahlen? Es war doch egal, ob es ihre Tochter oder deren beste Freundin war. Wie konnte es sein, dass sich keiner für Lacy interessierte? Oder ihnen wenigstens weniger Geld angeboten wurde. Irgendetwas. Auch von der Polizei war nichts gekommen und die hatten ja ebenfalls die Möglichkeit, uns zu kontaktieren. Wenn sie... was weiß ich. Sie könnten es über die Medien machen, wenn ihnen selbst nichts anderes einfiel. Aber, dass sich wirklich gar keiner gemeldet hatte, verunsicherte mich schon.

Ich seufzte schwer. Diese Situation generell war so verwirrend. In was hatten wir uns da nur hinein geritten? Ich würde Liam niemals Vorwürfe machen. Es war dunkel, wir waren nervös und es war das Haus der Brown's. Man konnte diese Mädchen sicher auch tagsüber verwechseln. Jedenfalls, wenn man sie das erste mal sah. Aber, wenn man genau hinsah, waren diese Mädchen vollkommen unterschiedlich. Wenn wir jetzt mal nur nach dem Aussehen gingen. Der größte Unterschied war sicher, dass Lacy viel kleiner war, als Stella. Doch es lag nicht nur daran, dass sie unterschiedlich groß waren. Lacy hatte ein eher herzförmiges Gesicht, volle und rote Lippen, während Stella die Konturen eines magersüchtigen Topmodels hatte. Das sollte weder heißen, dass es schlimm war, noch dass eines der beiden Mädchen nicht schön war, aber Lacy machte auf mich einfach einen sympathischeren Eindruck. Sie hatte eine vollkommen andere Wirkung auf Menschen, wenn man sie anblickte. Auch ihre Augen. Der Ausdruck in ihnen. Total unterschiedlich.

„Wo ist sie denn?", ertönte plötzlich eine Stimme hinter mir, weshalb ich erschrocken zusammenzuckte, bevor ich mich zu Niall umdrehte, der mir gerade entgegen kam und sich dann vor den Kühlschrank stellte. Diesen öffnete er natürlich sofort. Hatte er nicht erst vor kurzem gegessen? So ein Fresssack!
„Noch im Bad", meinte ich dann gelangweilt und sah wieder zur Badezimmertür. Bisher hatte sich noch nichts getan. Dabei war sie bereits seit einiger Zeit dort drinnen. Vielleicht sollte ich wirklich mal nachsehen.
„Wie lange ist sie da schon drinnen?", wollte Niall wissen, als er sich mit einem Sandwich hinsetzte und anfing vor sich hinzumampfen.
„Ich weiß nicht. Vielleicht zehn Minuten"; zuckte ich mit den Schultern. Es kam mir viel länger vor, aber vermutlich war es das gar nicht. Ich sollte trotzdem mal nachsehen. Bis jetzt hatte ich noch nicht einmal die Dusche laufen hören und ich war mir ziemlich sicher, dass sie nach dieser langen Zeit in den Fesseln verrückt nach dem warmen Wasser sein würde. Seufzend stand ich auf.
„Ich seh mal nach."

--- Harry POV Ende ---

Immer noch saß ich da und starrte an die Wand. Ich wusste nicht so genau, weshalb ich überhaupt hier in diesem Raum war. Das passierte mir ab und zu. Dass ich in einen Raum ging, dann aber vergaß, was ich machen wollte und stattdessen verwirrt und fragend durch die Gegend blickte. Das einzige, was ich noch wusste, war, dass ich hier nicht raus wollte. Was zum Teufel wollte ich nochmal tun?!

Ähm... is' jetzt nicht dein Ernst, oder? Duschen? Auf's Klo gehen? Dich vor bösen Menschen verstecken? Klingelt's?!

Upps! Stimmt ja. Ich verzog leicht mein Gesicht, bevor ich damit anfing, mich auszuziehen. Duschen. Endlich.
Plötzlich hörte ich von draußen herannahende Schritte und hörte sofort auf, mich zu bewegen, um zu lauschen, was da draußen vor sich ging.
„Lacy? Ist alles okay?", die Stimme klang etwas zögernd, auch wenn Harry anscheinend versuchte, es zu verbergen. Ich schluckte schwer. Eigentlich wollte ich gar nicht antworten, aber dann würde er sicher laut werden und versuchen, irgendwie in den Raum zu kommen. Ich räusperte mich leise, um meine Stimme zu finden, bevor ich recht leise erwiderte: „Mir geht es gut."

Ich war mir nicht sicher, ob er mich gehört hatte, aber als er draußen erleichtert schnaufte und sich dann wieder verzog, wusste ich die Antwort darauf auch selbst. Nun machte ich etwas schneller weiter. Ich wollte nicht, dass sie wütend wurden. Das würde mir sicher nicht bei der nicht mal zur Hälfte geplanten Flucht helfen.

Als das Wasser auf meinem Körper auftraf, erschreckte ich mich kurz wegen der Kälte. Doch endlich wurde es wärmer und ich entspannte mich. Diese Dusche bedeutete so viel. Niemals hätte ich gedacht, dass ich für eine so natürliche Sache, mal wirklich und aufrichtig dankbar sein würde.

Es dauerte bestimmt zwanzig Minuten, bis ich das Wasser abstellte, mir ein Handtuch nahm und es um meinen Körper schlang. Jetzt, wo ich im kühlen Bad stand, begann alles wieder auf mich einzuwirken. Die heiße Dusche hatte nur für den Moment gewirkt, doch jetzt war sie auch wieder vorbei und die Realität prasselte auf mich nieder. Ich war gefangen.
Wie oft hatte diese Panik mich heute eigentlich überfallen? Vor etwa einer Woche hatte ich noch auf der Couch gegammelt und versucht, nicht vor Langeweile zu sterben und nun stand ich hier: nackt in einem fremden Badezimmer, ahnungslos, wo genau ich mich befand und ob ich wirklich den nächsten Tag noch überleben würde.

„Brauchst du noch lange?", drang Harry's Stimme durch die Tür zu mir und ich riss mich zusammen, meine Angst so gut es ging zu unterdrücken.
„Ich...", stotterte ich. „Kann ich vielleicht was zum anziehen haben?"
Kurz antwortete er nicht und ich dachte schon, er hätte mich nicht gehört, aber dann meinte er, dass er gleich wieder da wäre und man hörte, wie er wieder verschwand. Ich wollte nur nicht wieder in meinen verschwitzten, dreckigen Schlafanzug steigen. So sehr ich es auch hasste, mir vorzustellen, ein Kleidungsstück dieser Männer zu tragen, aber meins war einfach zu kühl und schmutzig, als dass ich es noch länger hätte tragen können.

Als es wieder an der Tür klopfte, presste ich das Handtuch noch enger um meinen Körper und stellte mich dahinter, bevor ich zögernd die Tür öffnete und meinen Kopf hinausschob. Harry stand davor und hielt einen Haufen Stoffe in der Hand. Das meiste davon war in schwarz oder grau, aber es schien sauber zu sein. Das war die Hauptsache. Gerade wollte ich mir die Kleidung nehmen, als ich weiter hinten im Raum noch eine weitere Person wahrnahm. Es war ein Mann, etwa in Harry's Alter und mit hellen blonden Haaren. Er hatte ein Sandwich in der Hand und als er bemerkte, dass er beobachtet wurde, winkte er mir mit seinem Essen zu. Ich hob langsam die Hand und grüßte ihn zurück, so verwirrt war ich von diesem Kerl. Seine Backen waren voll und es schien, als würde er, wie ein Eichhörnchen, Nüsse in deinem Mund aufbewahren.

Dann verschwand ich mit der Kleidung, die Harry mir gebracht hatte, wieder im Bad und begann damit, mir die viel zu großen Sachen anzuziehen. Sogar Boxershorts waren dabei und weil ich meinen Slip beim besten Willen nicht weiterhin tragen wollte, zog ich mir auch diese an. Mit einer schwarzen Jogginghose, einem grauen Pulli und warmen Socken stand ich nun vor dem Spiegel und betrachtete mich. Meine Haut war so ungesund und bleich. Tiefe Augenringe zierten mein Gesicht und es war merkwürdig fleckig. Auch wenn das da draußen bloß meine Entführer waren, war es mir doch unangenehm, mich so irgendwem zu zeigen. Aber eigentlich konnten die ruhig sehen, dass es mir dreckig ging.

Tief atmete ich nochmal ein und versuchte meine Nerven zu beruhigen. Dann öffnete ich die Tür und verließ den schützenden Raum. In dem Wohnzimmer, der Küche, oder wie auch immer man diesen Raum nannte, befand sich nun nicht mehr nur noch Harry und Blondi, sondern auch noch zwei weitere junge Männer.

Ich glaube das nennt man eine Wohnküche... oder?

Das war jetzt aber auch egal. Fakt war: Alle starrten mich an und ich konnte nichts tun, außer vollkommen überfordert und schüchtern auf den Boden zu blicken und mir zu wünschen, dass sich vielleicht gnädigerweise ein Abgrund auftun würde. Natürlich geschah das nicht und ich sah einfach weiter auf meine Füße, in der Hoffnung, dass irgendjemand dieses Schweigen brechen würde.

Peinliche Stille... na super!





Das oben im Bild ist Lacy


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