Teil I - Kapitel 3

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Am nächsten Morgen weckte das Hausmädchen Johann noch vor Sonnenaufgang und es fiel ihm an diesem Tag nicht schwer, das Bett zu verlassen. Die Aufregung hatte ihn die Nacht über nur unruhig schlafen lassen. Immer wieder war er aufgewacht und so war er froh, als er endlich aufstehen konnte.

Er zog sich an, wobei er sich bewusst für einen seiner besten Tapperts entschied. Er beabsichtigte, beim Betreten des Schiffes keinen Zweifel an seiner gesellschaftlichen Stellung aufkommen lassen. Deshalb hatte er auch nur kurz gezögert und sich gefragt, ob ein Tappert auf einem Schiff wohl die beste Kleiderwahl war, dann aber schnell alle Zweifel beiseite gefegt. Er war schließlich nicht auf dem Schiff, um schwere Arbeiten zu verrichten. Dafür gab es ja die Mannschaft, die sein Vater für teures Geld angeheuert hatte.

Als er angezogen war, ließ er seinen Blick noch einmal durch den Raum gleiten, der ihm die letzten siebzehn Jahre als Schlafstätte und Rückzugsort gedient hatte. Kurz überkam ihn das ungute Gefühl nicht zu wissen, ob er dieses Zimmer je wieder betreten würde, aber er verscheuchte es entschlossen. Er würde nur wenige Wochen unterwegs sein und trotz aller Gefahren durch Stürme und Piraten liefen jeden Tag dutzende von Schiffen unversehrt in Lübeck ein. Sicherlich würde alles gut gehen.

Er schulterte den Kleidersack, den er schon am Abend zuvor gepackt hatte und der neben einigen Kleidungsstücken zum Wechseln und für die Verhandlungsgespräche in Bergen auch eine Wachstafel, einen Stilus, ein Kerbholz und für alle Fälle einen Scheibendolch enthielt. Er erinnerte sich, wie ehrfürchtig er den Dolch, das Zeichen seines Standes als freier Bürger, am gestrigen Abend von seinem Vater entgegen genommen und schließlich zwischen seinen Kleidern verstaut hatte.

Johann verließ sein Zimmer, trat in den zugigen Gang seines Elternhauses hinaus und folgte diesem bis zur Haustüre. Dort warteten seine Eltern schon auf ihn, beide ebenfalls bereits angekleidet, seine Mutter mit einer Kerze in der Hand.

Sie umarmte ihn kurz aber liebevoll und flüsterte ihm dabei ins Ohr:

„Pass auf dich auf und komme bald gesund zurück, mein Hannes."

Kurz schnürte es ihm bei den Worten seiner Mutter und ihrer kleinen Geste der Zuneigung die Kehle zusammen und er brachte nicht mehr als ein Nicken zustande. Doch dann riss er sich unter den strengen Augen seines Vaters zusammen und gab diesem mit einer kleinen, angedeuteten Verbeugung die Hand.

„Lebe wohl, mein Sohn."

„Ich werde Euch nicht enttäuschen, Vater."

Sein Vater nickte ihm zu und sein Gesicht verlor die Strenge.

„Das weiß ich."

Ein letztes Mal betrachtete Johann seine Eltern, die Seite an Seite, nur vom schwachen Licht der Kerze beleuchtet, im dunklen, kühlen Gang ihres herrschaftlichen Hauses standen, wieder mit dem unguten Gefühl der Ungewissheit, ob er sie jemals wiedersehen würde. Dann aber wandte er sich, entschlossen, solcher Gedanken endlich Herr zu werden, um, öffnete die Haustür und war schließlich auf der Straße.

Die Morgenluft war trotz der Jahreszeit kühl. Ein leichter Wind wehte und würde dafür sorgen, dass sie wie vorgesehen auslaufen würden. Johann nahm es als gutes Zeichen für die Reise.

Da er bisher selten um diese Uhrzeit das Haus verlassen hatte, überraschte es ihn, dass die Stadt bereits aus ihrem nächtlichen Tiefschlaf erwacht war. Auf seinem Weg zum Hafen roch es nach frisch gebackenem Brot und frisch gefangenen Fischen. Aus der Schmiede erklang bereits das Hämmern des großen Schmiedehammers und die Krämer öffneten die Türen zu ihren Geschäften. Die Straßen und die Läden waren ihm vertraut und es erschien Johann in diesem Moment als unwirklich, dass der Alltag in Lübeck ab sofort für einige Zeit ohne ihn weitergehen würde.

Trotz dieser Gedanken eilte er zielstrebig weiter ohne stehen zu bleiben und so dauerte es nicht lang, bis er den Hafen erreichte und die ‚Agnes' am Kai liegen sah. An Bord konnte er im dämmrigen Morgenlicht bereits Männer ausmachen, die das Schiff zum Auslaufen bereit machten.

Mit langen Schritten erreichte Johann schließlich den Steg und ging an Deck des Schiffes. Dort sah er sich suchend um und entdeckte Schiffer Petters auf dem kleinen Bugkastell. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und überwachte seine Männer genau. Ab und zu brüllte er einen Befehl über das Deck, dem die Mannschaft sofort nachkam. Dabei strahlte er soviel Ruhe und Erfahrung aus, dass Johann auch seine letzten Zweifel und Ängste beiseite schieben konnte.

Er kletterte die Leiter zum Bugkastell hinauf und gab dem Schiffer die Hand, als er vor ihm zu stehen kam.

„Guten Morgen, Schiffer Petters."

„Ah, min Jung. Du kommst gerade rechtzeitig. Wir sind fast bereit zum Auslaufen. Der Wind steht günstig. In kürzester Zeit können wir Lübeck über die Trave verlassen."

Johann nickte höflich.

„Das sind erfreuliche Neuigkeiten."

„Du möchtest bestimmt gerne wissen, wo deine Kajüte ist und deinen Reisesack dort abstellen."

Wieder nickte Johann.

„Das wäre sehr freundlich."

Die große Pranke des Schiffers landete einmal mehr auf seiner Schulter und er zwinkerte Johann dabei gutmütig zu.

„Wenn du einen guten Rat von mir annehmen möchtest, Johann, dann den, dass für allzu große Höflichkeit und Zurückhaltung an Bord eines Schiffes auf den Weiten des Meeres kein Platz ist. Es mag das Schiff deines Vaters sein. Aber du wirst trotzdem von nun ab die nächsten Wochen mit der Mannschaft dieses Schiffes auf engstem Raum verbringen müssen. Es sind alles einfache und wilde Burschen, aber die meisten haben das Herz auf dem rechten Fleck. Sie verstehen ein raues aber ehrliches Wort besser, als höfliche Floskeln."

Dann beugte sich der Schiffer, noch bevor Johann noch irgendetwas hätte erwidern können, ein wenig über die Zinnen des Kastells.

„He, Morten!"

Bei der Nennung dieses Namens zuckte Johann unwillkürlich zusammen, noch mehr allerdings, als Schiffer Petters hinzufügte:

„Komm her und zeige unserem Gast seine Kajüte."

Johann hatte insgeheim gehofft, dass Morten nach ihrer Auseinandersetzung vom vorherigen Tag gar nicht erst auf dem Schiff sein würde oder er ihm wenigstens so lange wie möglich aus dem Weg würde gehen können. Offensichtlich war das Schicksal an diesem Tag aber zu albernen Späßen geneigt. Anders war es wohl kaum zu erklären, dass Johann sich gleich in seinen ersten Minuten an Bord des Schiffes wieder ausgerechnet diesem Menschen gegenübersah.

Mortens Kopf erschien am oberen Ende der Leiter, die vom Deck zum Bugkastell hinaufführte. Hierbei würdigte er Johann keines Blicks, sondern sah allein den Schiffer an.

„Warum ich?"

Kurz stockte Johann der Atem vor innerer Empörung. Was bildete sich dieser Morten denn ein, dem Schiffer zu widersprechen. Hatte dieser aufsässige Mensch tatsächlich keinerlei Respekt vor anderen und insbesondere vor denjenigen, die ihm gegenüber höher gestellt waren? Sicherlich konnte der Schiffer ein solches Verhalten nicht ungesühnt lassen. Die Disziplin erforderte eine Bestrafung.

Umso fassungsloser war er, als der Schiffer lediglich mit einem nachsichtigen Lächeln den Kopf schüttelte, als habe er sich bereits seit langer Zeit an Mortens Aufsässigkeit gewöhnt.

„Du bist der Steuermann und wirst erst dann gebraucht, wenn wir in See stechen. Bis dahin bist du abkömmlich. Ich würde es selbst tun, aber ich muss die Männer überwachen. Deshalb wirst du unseren Ehrengast in seine Kajüte geleiten und ihn mit den übrigen Gepflogenheiten an Bord vertraut machen."

Es war Morten anzusehen, dass dieser immer noch darüber nachdachte, sich den Befehlen seines Schiffers zu widersetzen. Es erforderte wenig Menschenkenntnis, um zu wissen, dass Morten ebenso wenig begeistert davon war, ihm seine Kajüte zu zeigen wie er davon, dass ausgerechnet Morten ihn dorthin begleiten sollte. Wahrscheinlich, dachte Johann grimmig, war diese gegenseitige Abneigung die erste Gemeinsamkeit, die es zwischen ihnen zu entdecken gab.

Doch dann zuckte Morten mit den Schultern, schenkte Johann einen kurzen, abschätzigen Blick und rief ihm zu:

„Komm schon herunter."

Nun blieb Johann aber nichts anderes übrig, als Mortens Aufforderung, wenn auch widerwillig, Folge zu leisten. Er kletterte mit seinem Sack über der Schulter ein wenig umständlich die wackelige Leiter des Kastells wieder hinunter und folgte Morten quer über das Deck des Schiffes bis zum deutlich größeren Heckkastell. Dort führten mehrere Türen in das Kastell hinein.

Eine davon öffnete Morten und Johann fand sich in einem kleinen, dunklen Raum ohne Fenster wieder, dessen einzige Lichtquelle in diesem Moment die offene Tür war. In dem Licht, das durch die Tür in das Innere des Raums fiel, konnte Johann in der linken hinteren Ecke eine einfach gehaltene Bettstatt mit niedrigem Gestell und einer Matratze, die so aussah, als sei sie mit Stroh gefüllt, erkennen. In der rechten hinteren Ecke stand eine kleine, flache Truhe. Auf dieser stand ein Kerzenhalter mit einer Kerze, die wohl dafür gedacht war, den Raum bei geschlossener Tür oder in der Nacht zu erhellen.

Ein wenig ernüchtert blieb Johann an der Schwelle des Raumes stehen. Er hatte gewusst, dass sich seine Unterkunft auf dem Schiff nicht mit seinem gut ausgestatteten Zuhause würde messen können, aber er hatte doch insgeheim erwartet, dass die Gästekajüte zumindest ein wenig größer und bequemer ausgestattet sein würde.

Morten, der mitten im Raum stand, drehte sich zu ihm um. Er musste ihm die Ernüchterung angesehen habe, denn ein schadenfrohes Grinsen schlich sich auf Mortens Gesicht.

„Ich wette, du bereust gerade, dein warmes und weiches Zuhause verlassen zu haben. Habe ich recht, Goldjunge?"

Tatsächlich hatte sich Johann gerade gefragt, wie er die kommenden Wochen an Bord des Schiffes in dieser dunklen, stickigen Kajüte überstehen sollte. Er wäre aber lieber gestorben, als dies Morten gegenüber zuzugeben. So versuchte er sich an einem überlegenen Blick und reckte das Kinn ein wenig in die Höhe.

„Und ich wette, du würdest gerne mit mir tauschen, anstatt einen einzigen Raum mit vielen anderen Männern und noch dazu der Fracht zu teilen. Eine Kajüte ganz für dich alleine wäre für dich sicherlich das Höchste der Gefühle, wird aber wahrscheinlich dein Leben lang ein unerfüllter Traum bleiben."

Mortens Augen, die er im Gegenlicht der Tür gut erkennen konnte, verengten sich zu Schlitzen.

„Dafür habe ich mir alles, was ich erreicht habe und besitze, selbst erarbeitet."

Langsam ließ Johann seinen Blick zuerst durch die Kajüte, dann über die Schulter durch die Tür nach draußen gleiten und zuckte anschließend betont gleichgültig mit den Schultern.

„Besonders beeindruckend ist das Ergebnis bisher nicht."

Er konnte geradezu spüren, wie Morten begann, vor unterdrückter Wut zu zittern und war stolz auf sich und diesen ersten Schlagabtausch, den er, so nahm er jedenfalls an, für sich gewonnen hatte. Vielleicht hatte sein Vater tatsächlich recht gehabt und er würde diese Herausforderung einfach nur annehmen müssen, um an ihr wachsen zu können.

Doch Morten trat auf ihn zu, bis er ihm genau gegenüber stand, fast so wie am gestrigen Morgen im Laderaum, nur mit dem Unterschied, dass Johann an diesem Tag derjenige war, der einen Sack über der Schulter trug. Die hellblauen Augenschlitze musterten ihn mit so viel Verachtung, dass Johann sich davon abhalten musste, einen Schritt zurück zu weichen.

„Ich habe meinen Wert schon lange unter Beweis gestellt, Goldjunge. Du dagegen wirst erst noch zeigen müssen, dass mehr in dir steckt, als das Vatersöhnchen, das du zu sein scheinst. Hier auf dem Schiff nützen dir deine Bildung und das Geld deines Vaters nichts. Hier zählen nur Mut und Unerschrockenheit, Durchsetzungsvermögen und Zusammenhalt. Du magst der Sohn des Schiffseigners sein. Aber du wirst dich auf See den Gepflogenheiten des einfachen Seemanns anpassen müssen. Und dein Vater wird dir dabei nicht helfen können."

Mit diesen Worten drückte sich Morten an ihm vorbei, wieder hinaus auf Deck, nicht aber ohne Johann dabei den Ellbogen in die Seite gerammt zu haben. Kurz blieb ihm vor Schmerz und Überraschung die Luft weg. Er ließ den Sack fallen und hielt sich die Seite, die morgen sicherlich ein blauer Fleck zieren würde. Das Hochgefühl, diesen Disput für sich entschieden zu haben, war verflogen. Die Wut auf Morten hatte dagegen neue Höhenflüge erreicht.

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