Teil I - Kapitel 13

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Kapitel 13

Johann erwachte am nächsten Morgen fröstelnd und mit einem verspannten Nacken von seiner Nacht auch dem Bugkastell. Trotz der Decke, die er sich irgendwann im Laufe der Nacht noch aus seiner Kajüte geholt hatte, war es kalt gewesen. Nebel lag über dem Wasser, dick genug, um das nahe Ufer nicht erkennen zu können.

Johann stand umständlich auf und streckte sich ausgiebig, die Arme und Hände hoch über dem Kopf, in der Hoffnung, seinen Nacken und seinen Rücken wieder ein wenig einzurenken. Es schien zu wirken, denn als er die Arme wieder senkte, fühlte er sich ein wenig besser.

Er sah sich um und bemerkte als erstes, dass Harro noch immer tief und fest neben ihm lag und in seine und Mortens Decke eingemummelt, fest und selig schlief. Johann kauerte sich neben den schlafenden Schiffsjungen und rüttelten diesen sanft an der Schulter.

„Aufwachen, Harro. Die Sonne geht gerade auf."

Harro blinzelte zunächst verschlafen, war dann aber mit einem Schlag wach und setzte sich auf.

„Morten?"

Johann legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.

„Morten wird entweder noch die Kajüte des Schiffers bewachen oder bereits am Ruder stehen. Aber keine Angst, ich bleibe bei dir."

Seine Worte schienen Harro ein wenig zu beruhigen und ein wenig erfüllte Johann dies mit Stolz. Seit er Harro gestern mit Morten zusammen geholfen hatte, schien er ebenfalls das Vertrauen des Schiffsjungen gewonnen zu haben.

„Komm, wir sehen nach, wo Morten ist. Dann finden wir vielleicht auch heraus, wann Bertin das Schiff verlassen wird."

Johann hatte es aufmunternd gemeint, aber bei der Erwähnung Bertins zog Harro die Schultern ängstlich hoch. Wieder versuchte Johann, den kleinen Jungen zu beruhigen.

„Es kann dir nichts passieren. Wir alle passen auf dich auf. Auch der Schiffer. Immerhin hat er beschlossen, dass Bertin das Schiff verlassen muss."

Dies schien Harro schließlich zu überzeugen. Gemeinsam suchten sie ihre Decken zusammen und verließen das Bugkastell. Ein Blick zur Kapitänskajüte zeigte ihm, dass Morten nicht mehr Wache hielt, so vermutete er, dass Morten bereits am Ruder stehen musste. Er nahm sich nur so viel Zeit, seine Decke und der Einfachheit halber auch Harros Decken in seine eigene Kajüte zu bringen, wobei Harro nicht dazu zu bewegen war, sich seiner oder der Kajüte des Schiffers zu nähern. In der Kapitänskajüte war es ruhig. Dann stieg Johann gemeinsam mit Harro zum Heckkastell hinauf.

Tatsächlich stand Morten am Ruder aber anstatt das Schiff zu navigieren, starrte er grimmig in den Nebel hinaus.

„Ich kann das Ufer nicht ansteuern, bevor sich der Nebel gelichtet hat. Es wäre viel zu gefährlich es zu versuchen. Die Gefahr, hierbei auf Grund zu laufen, wäre viel zu groß."

Johann trat neben Morten.

„Ist Bertin noch immer in der Kapitänskajüte eingeschlossen? Wie war die Wache?"

„Irgendwann im Laufe der Nacht hat er es aufgegeben, gegen die Tür zu hämmern und zu treten. Eine Weile hat er noch geflucht und Verwünschungen ausgestoßen, insbesondere gegen mich, dann ist er irgendwann ruhig geworden. Seitdem hat er sich nicht mehr gerührt."

„Vielleicht hat er eingesehen, dass es keinen Sinn macht, sich zur Wehr zu setzen."

Morten wandte den Blick kurz vom Nebel ab und Johann zu.

„Ich denke eher, er wartet auf den Moment, wenn wir die Tür aufmachen müssen, um ihn von Bord zu bringen. Ich fürchte, er wird nicht kampflos gehen. Das entspricht nicht seiner Art."

Mortens Blick wanderte zu Harro.

„Keine Angst. Er wird dir nichts mehr tun. Das verspreche ich dir."

Da es im Moment nichts zu tun gab, verließen sie zu dritt das Heckkastell, holten sich bei Fedder ihr Frühstück und setzten sich gemeinsam auf das Deck, zusammen mit den übrigen Seeleuten, die nicht gerade die Schifferkajüte bewachten. Es schien, als würde das ganze Schiff den Atem anhalten und erst dann wieder zur Normalität zurückkehren können, wenn das Problem Bertin gelöst war.

Der Nebel hielt sich bis in den Vormittag hinein und als er sich schließlich lichtete und Morten das Ruder in die Hand nehmen und an die Küste navigieren konnte, schien das ganze Schiff schließlich aufzuatmen.

Morten brachte die ‚Agnes' so dicht wie möglich an den zum Ufer hin abflachenden Grünstreifen. Dann ließ Schiffer Petters Anker werfen und das Beiboot bereit machen. Zu sechst öffneten sie schließlich die Tür zur Kapitänskajüte. Morten war unter diesen sechs. Johann hatte sich ebenfalls für die Aufgabe gemeldet Bertin von Bord zu bringen, aber Petters hatte nur abgewunken. Heimlich war Johann auch gar nicht traurig darüber, da er ohnehin nicht gewusst hätte, wie er hätte helfen können, diesen Stier von Bord zu bringen. So stand er nun etwas abseits, schützend neben Harro, und gab sich damit zufrieden zu beobachten.

Doch trotz seiner vergleichsweise sicheren Position klopfte ihm das Herz bis zum Hals, als die sechs auserwählten Seeleute, Morten voran, nun die Tür zur Kapitänskajüte öffneten. Johann konnte die Augen nicht von Morten abwenden. Er war sich sicher, dass Bertin auf Morten die größte Wut haben und jede Möglichkeit nützen würde, um Morten zu schaden. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre Morten nicht unter denen gewesen, die sich nun mit Bertin auseinander setzen mussten, aber es war für Morten keine Frage gewesen, sich der Situation zu stellen, die er selbst mit heraufbeschworen hatte. Genau aus diesem Grund ließ er es sich offenbar auch nicht nehmen, die Tür zu öffnen.

Einen Moment lang blieb alles ruhig. Doch dann war aus der der Kajüte des Kapitäns ein wildes Gebrüll zu hören und schon im nächsten Moment war Morten unter einem riesigen Berg Fleisch und Muskeln und wutrot verfärbter Haut begraben.

Harro neben ihm stieß einen erstickten Schreckensschrei aus und auch Johann selbst stockte der Atem. Alles war so schnell gegangen, dass er Morten im ersten Augenblick unter Bertin nicht mehr erkennen konnte. Alles, was er sah, war eine gewaltige Faust, die zum Schlag ausholte. Doch dann waren die anderen Seeleute zur Stelle. Andere griffen von außen in das Geschehen ein und gemeinsam gelang es ihnen, Bertin von Morten herunter zu zerren.

Das erste, was Johann sah, war Blut. Es bedeckte Mortens Gesicht, tropfte auf die Planken und saugte Mortens helles Untergewand voll. Er vergaß Harro, vergaß Bertin und die anderen Seeleute, die Bertin, der sich mit allen Kräften wehrte, über das Deck und zum Beiboot schleiften. Seine Beine bewegten sich wie von selbst. Im nächsten Moment kniete er neben Morten, der auf den Schiffsplanken lag und sich nicht rührte.

Das Blut kam aus Mortens Nase, soviel konnte Johann erkennen, und es war eine Menge. Im Gegensatz zu dem satten, roten Ton, wirkte Morten blass und leblos und Johann spürte, wie eine bisher nie gekannte Panik in ihm aufstieg. Er wollte etwas tun, irgendetwas, um Morten zu retten, aber er wusste nicht was und diese Hilflosigkeit verstärkte das panische Gefühl der Angst nur noch.
Im nächsten Moment wurde er beiseite gestoßen und fand sich auf seinem Hosenboden sitzend wieder. Als er verwirrt aufsah, sah er Fedder, der sich nun an seiner statt neben Morten kniete und dessen leblosen Körper aufgerichtet und gegen die Kajütenwand gelehnt hatte, den Kopf leicht in den Nacken. Dann drehte sich Fedder zu ihm um.

„Schnell, ich brauche zwei mit Meerwasser getränkte Stofffetzen."

Froh, etwas tun zu können, rappelte Johann sich hoch. Harro hatte Fedders Worte wohl ebenfalls gehört und war bereits dabei, den an einem Seil festgebundenen Holzeimer ins Meer zu lassen und kurz darauf wieder nach oben zu holen. Ohne zu überlegen riss Johann die beiden Ärmel seines Untergewandes an den Schultern ab, tauchte sie in das kalte Meerwasser und brachte sie zu Fedder zurück. Nur am Rande nahm er wahr, wie die übrigen Seeleute noch immer darum kämpften, Bertin in das Beiboot zu schaffen.

„Ich werde dich finden, Morten, wo immer du auch seist, dich, den kleinen Hurensohn und den schweinsgesichtigen Kaufmannsspross. Und wenn ich euch gefunden habe, dann gnade euch Gott!"

Es waren Bertins letzte Worte an Bord dieses Schiffes, denn endlich gelang es den übrigen Seeleuten, Bertin in das Beiboot zu schaffen und von Bord zu bringen. Johann versuchte, sich von Bertins Worten nicht beeindrucken zu lassen und übergab Fedder die beiden getränkten Stofffetzen.

„Hier."

Fedder nahm sie wortlos entgegen. Einen der beiden Stofffetzen drückte er Morten, der noch immer bewusstlos an der Wand lehnte, in den Nacken, den anderen benutzte er, um grob das Blut aus dem Gesicht zu wischen und den weiteren Blutfluss zu stillen. Es dauerte eine Weile, nach Johanns Empfinden eine Ewigkeit, bis der Blutfluss schließlich nachließ und nach und nach versiegte. Noch länger dauerte es, bis Morten sich schließlich regte und wieder zu Bewusstsein kam. Er stöhnte vor Schmerz und seine rechte Hand fand unwillkürlich den Weg zu seinem Gesicht, wurde jedoch von Fedder sanft abgefangen.

„Lass das sein, Morten. Deine Nase ist gebrochen. Sie anzufassen, würde nur noch mehr schmerzen."

„Dieser Bastard."

Morten hatte leise und ein wenig undeutlich gesprochen, aber es war klar, wen er gemeint hatte.

Fedder lachte gutmütig.

„Du solltest beten, dass du ihm nie wieder begegnest. In ihm hast du einen Feind fürs Leben. Er hat dir, Harro und Johann noch ewige Rache geschworen, als er schließlich von Bord geschleift wurde."

„Ich habe keine Angst vor ihm."

„Ich weiß. Aber das nächste Mal könnte er Schlimmeres anrichten als eine gebrochene Nase."

Fedder warf den inzwischen blutgetränkten Stofffetzen ins Meer und drückte Morten das noch saubere Tuch aus seinem Nacken in die Hand.

„Hier. Halt das noch ein wenig vorsichtig an deine Nase. Ich muss in meine Kombüse."

Morten tat, wie ihm geheißen und Fedder richtete sich auf und ging davon. Erst jetzt traute sich Johann, Harro noch immer im Schlepptau, näher an Morten heran. Morten versuchte sich an einem Lächeln, als er sie beide sah, es verkam hinter dem Stoff aber eher zu einer Grimasse. Morten sah übel zugerichtet aus. Unter dem Blut, das noch immer stellenweise an seinem Gesicht klebte, verfärbte sich die Haut rund um die malträtierte Nase herum inzwischen leuchtend blau. Es war Morten anzusehen, dass er Schmerzen hatte. Trotzdem verlor er kein Wort darüber, sondern fragte stattdessen:

„Ist Bertin an Land?"

Johann suchte mit den Blicken den Horizont ab und sah, dass das Beiboot wieder auf die ‚Agnes' zukam. Am Ufer in der Ferne sah er eine einsame Gestalt stehen.

„Ja, es scheint so."

„Gut."

Trotz der Schmerzen schwang in diesem einen Wort eine tiefe, innere Befriedigung mit, die Morten auch im Gesicht abzulesen war und die keinen Zweifel daran ließ, dass Morten seine gebrochene Nase als kleines Opfer für die Erreichung dieses Zieles ansah. Johann dagegen spukten noch immer Bertins letzte Worte im Kopf herum.

„Und wenn er seine Drohungen wahr macht?"

Doch Morten zuckte nur unbekümmert mit den Schultern.

„Dafür müsste er uns zuerst einmal finden. Im Moment wird er aber genug damit zu tun haben, das nächste Dorf oder die nächste Stadt zu erreichen. Bis dahin sind wir weit weg."

Johann versuchte sich, von Mortens Sicherheit überzeugen zu lassen. Er musste Morten jedenfalls insoweit recht geben, als zumindest zum jetzigen Zeitpunkt keine Gefahr mehr von Bertin ausging und beruhigte sich mit diesem Gedanken.

Morten besah sich den feuchten, inzwischen Blutspuren aufweisenden Stoff in seinen Händen, dann wanderte sein Blick zu Johanns nackten Armen in dem zerrissenen Untergewand. Schließlich fing Morten an zu grinsen, nur um im nächsten Moment das Gesicht wieder schmerzhaft zu verziehen. Der Schalk blitzte ihm aber noch immer aus den Augen, als er schließlich gutmütig den Kopf schüttelte.

„Ich bin mir sicher, dass dein feines Hemd mehr gekostet hat, als ich in einem Monat an Heuer verdienen kann. Und du hast es einfach zerrissen? Für mich?"

Ein wenig verlegen umfasste Johann seine beiden Oberarme mit der jeweils anderen Hand.

„Fedder brauchte einen mit Wasser getränkten Stofffetzen, um dir zu helfen. Ich hatte nichts anderes zur Hand."

Wieder versuchte sich Morten an einem vorsichtigen Lächeln und dieses Mal gelang es ihm besser.

„Danke. Ich weiß das zu schätzen."

Johann nahm die Arme wieder herunter.

„Ich dachte, du verblutest. Da war mir mein Hemd gleich."

Morten schnaubte belustigt auf.

„Unkraut vergeht nicht. Da muss schon ein anderer als Bertin kommen, um mich zur Strecke zu bringen."

Doch dann wurde er wieder ernst und sah Johann mit offener Freundlichkeit an.

„Aber danke für deine Sorge."

Johann, der im ersten Moment angesichts Mortens Belustigung schon wieder den Stachel der Kränkung gespürt hatte, sah sich bei diesen letzten Worten und Mortens offenen Blick den Wind aus den Segeln genommen. Ein warmes Gefühl breitete sich in seinem Bauch aus. Er nickte Morten zu und Morten nickte in stiller Übereinkunft zurück – ein Pakt, der ihre vergangenen Rivalitäten endgültig der Vergangenheit zuschrieb.

Morten fuhr sich noch einmal mit dem nicht mehr sauberen Stofffetzen durch das Gesicht. Als er sich vergewissert hatte, dass kein neues Blut geflossen war, entschied er sich dafür aufzustehen. Im ersten Moment schwankte er gefährlich und Johann war schon bereit, ihn zu stützen. Dann aber fand Morten sein Gleichgewicht wieder. Er sah an sich herab und furchte die Stirn, soweit es ihm ohne Schmerzen möglich war.

„Der Dreckskerl hat ganze Arbeit geleistet."

Johann konnte Morten nur beipflichten. Sein Hals, sein Untergewand – alles war vollkommen blutverschmiert.

Morten zögerte nicht lange. Mit einem Ruck zog er sich sein Untergewand über den Kopf. Mit dem Untergewand in der Hand ging er zu dem Eimer mit Meerwasser, den Harro, noch immer fast bis zum Rand gefüllt an der Reling hatte stehen lassen und kniete sich davor. Zunächst schöpfte er mit beiden Händen Wasser, wusch sich noch einmal vorsichtig das Gesicht, dann den Hals, den Nacken und den Oberkörper. Als letztes tunkte er das Untergewand in das Wasser und rieb den Stoff aneinander in dem Versuch, das Blut herauszuwaschen.

Johann schaffte es nicht, den Blick abzuwenden. Die jahrelange Arbeit an Bord eines Schiffes hatte Morten gestählt. Und doch zeigte das Blut auf seiner Haut, dass auch Morten nicht unverwundbar war. Dieser Anblick ließ Johann ein wenig schwindelig werden und so war er froh, als das Beiboot wieder an der ‚Agnes' anlangte und für Ablenkung sorgte.

Die Seeleute, die Bertin zum Ufer gebracht hatten, stiegen wieder an Bord, erschöpft aber mit dem guten Gewissen einer erfolgreich erledigten Aufgabe im Rücken. Sie berichteten in den schillerndsten Farben davon, wie schwer es gewesen war, Bertin am Ufer abzusetzen, ohne weitere Verletzungen zu riskieren. Morten mischte sich sofort in das Gespräch ein, wollte genauestens wissen, was Bertin gesagt und getan hatte und dankte dann jedem der beteiligten Seeleute mit Handschlag für die Hilfe, nachdem er selbst nicht mehr in der Lage gewesen war, bei der Aussetzung Bertins mitzuhelfen.

Schiffer Petters kam herbei und lobte die an der Aussetzung Bertins beteiligten Seeleute. Dann scheuchte er wieder alle auf ihre Position, Morten eingeschlossen, der sofort auf das Heckkastell kletterte. Johann war nicht wenig erleichtert, als die 'Agnes' schließlich wieder Fahrt aufnahm. Er konnte es kaum erwarten, so viele Seemeilen wie möglich zwischen das Schiff und Bertin zu bekommen.

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