Teil I - Kapitel 10

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Kapitel 10

Es kam Johann wie eine Ewigkeit vor, bis der Wind endlich nachließ. Doch wie jeder Sturm hatte auch dieser irgendwann ein Ende.

Er spürte es zuerst daran, dass das Ruder nicht mehr so stark an seinen inzwischen bereits zitternden Oberarmen riss. Bald darauf ließ auch der Regen nach, bis es nur noch leicht nieselte. Schließlich zeigten sich sogar in der Wolkendecke erste Lücken und ließen eine bereits tief stehende Abendsonne erkennen, die ihre letzten, wärmenden Strahlen auf das Schiff entsandte. Der Wellengang beruhigte sich, bis das Schiff nur noch leicht hin und her schwankte und ein allgemeines Aufatmen durch das Schiff ging.

Der Schiffer ließ den Anker setzen und erst da entließ auch Morten das Ruder aus seiner Umklammerung und glitt, vollkommen am Ende mit seinen Kräften, zu Boden. Johann ließ sich neben Morten fallen und eine kleine Weile saßen sie nur da, schnappten nach Luft und warteten darauf, dass das Brennen in den Armen, Schultern und Beinen nachlassen würde.

Irgendwann drehte Morten den Kopf und sah ihn an. Er sah müde und erschöpft aber auch erleichtert aus, genauso, wie Johann sich selbst fühlte.

„Danke. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft."

Im ersten Moment war Johann zu verblüfft, um zu antworten. Dann aber lächelte er, ein wagenradgroßes, erleichtertes, ehrliches Lächeln, das ihm nach den Ängsten der vergangenen Stunden nicht schwer fiel.

„Und ohne dich wären wir vielleicht gekentert. Oder an der Küste zerschellt. "

Mortens blaue Augen betrachteten ihn offen, freundlich und mit einer neuen Art der Hochachtung, die Johanns Herz höher schlagen ließ. Bis zu diesem Moment hatte er selbst nicht gewusst, wie viel ihm Mortens Anerkennung bedeutete. Aber nun, da er sie endlich hatte, würde er sich ohne zu zögern noch einmal einem zweiten Sturm entgegen stellen.

Morten öffnete gerade den Mund, wohl um etwas zu erwidern, aber noch bevor er etwas sagen konnte, wurde er unterbrochen von Petters, der auf der Leiter zum Kastell erschien und sofort lospolterte:

„Ah, unsere Helden des Tages. Sehr schön, sehr schön. Ich gratuliere euch, das war eine außerordentliche Leistung, uns nahezu unbeschadet durch den Sturm zu bringen, nachdem das Seil des Notankers gerissen ist. Gut gemacht, Morten. Du hast nicht nur ein großes Mundwerk, sondern offensichtlich auch etwas dahinter. Und Johann – dein Vater wird stolz auf dich sein, wenn ich ihm hiervon berichte."

Bei Petters Worten schlug Johann die Augen nieder. Es war ihm unangenehm, dass Petters vor Morten seinen Vater erwähnte, fast so, als könnte dies den Pakt, den er und Morten im Sturm geschlossen hatten und der ihm Mortens Anerkennung eingebracht hatte, wieder zunichte machen. Aus den Augenwinkeln heraus spähte er zu Morten, doch dieser schien von Petters Worten weniger beeindruckt zu sein, als er selbst. Er ging gar nicht darauf ein, sondern fragte stattdessen:

„Wie geht es Lutz?"

Mit schlechtem Gewissen wurde Johann bewusst, dass er Lutz' Verletzung vollkommen vergessen hatte.

Petters zündete sich in aller Ruhe eine Pfeife an, bevor er antwortete.

„Lutz hat sich die Schulter ausgerenkt. Fedder hat sie ihm wieder eingerenkt. Jetzt trägt Lutz den Arm in der Schlinge und darf ihn ein paar Tage lang nicht benutzen. Was wiederum bedeutet, dass wir nur tagsüber segeln können, nachts dagegen nicht. Unsere Reise wird sich dadurch möglicherweise ein wenig verzögern."

Morten schien drauf und dran zu sein, Petters zu widersprechen aber Petters schnitt ihm das Wort ab, indem er mit dem Pfeifenhals auf Morten deutete.

„Auch du kommst nicht ohne Schlaf aus, Morten. Und bevor dir tagsüber am Ruder die Augen zufallen, lasse ich das Schiff lieber nachts ankern."

Dagegen schien Morten nichts mehr einzufallen, denn er fügte sich stumm in Petters Befehl. Dieser nahm daraufhin seine Pfeife wieder in den Mund und machte noch einen tiefen, zufriedenen Zug, bevor er sich zum Gehen wandte.

„Komm mit, Morten. Held oder nicht – es gibt viel zu tun, bevor wir hoffentlich morgen weitersegeln können. Das Schiff ist an einigen Stellen durch den Sturm beschädigt worden. Wir müssen mit den Reparaturen beginnen, solange uns noch ein wenig Sonnenlicht zur Verfügung steht. Hierbei wird jeder Seemann gebraucht."

Mit diesen Worten stieg Petters, die Pfeife im Mund, wieder auf die Leiter und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Morten neben ihm seufzte theatralisch auf und erhob sich. Zu Johanns stiller Freude ging er aber nicht einfach Petters hinterher, sondern wandte sich ihm zu, streckte ihm die Hand entgegen und als Johann sie ergriff, zog er ihn mit einem kräftigen Ruck hoch, so dass sie sich schließlich gegenüber standen. Sie sahen sich an und keiner sagte ein Wort, bis Morten sich, mit einem fast schon verlegenen Grinsen, abwandte und in Richtung der Leiter ging, um Petters Befehl Folge zu leisten.

Johann überlegte nicht lange und folgte ihm. Vielleicht würde er sich ebenfalls bei den Reparaturarbeiten irgendwie nützlich machen können.

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