Morten war den ganzen Tag über ziellos kreuz und quer durch Bergen gelaufen. Im Nachhinein hatte er keine Ahnung, wo er überall gewesen war. Er wusste nur, dass er sich irgendwann am Grab seiner Mutter wiedergefunden hatte. Wie er dort hingekommen war, war ihm ein Rätsel.
Dort, wo nur ein schlichtes, bereits verwittertes Kreuz aus Holz an seine Mutter erinnerte, hatte er sich niedergelassen und sich zum ersten Mal gezwungen nachzudenken, seine Gedanken zu ordnen und sich mit dem auseinander zu setzen, was sich an diesem Morgen ereignet hatte.
Angesichts seiner Erfahrungen in den Laderäumen der verschiedenen Schiffe, auf denen er in der Vergangenheit angeheuert hatte, hätte es für Morten einfach sein müssen, auch den Kuss mit Johann am Morgen als etwas vollkommen Unbedeutendes abzutun und sich keine weiteren Gedanken darüber zu machen.
Aber tatsächlich war es nicht so einfach.
Johann war nicht wie die anderen jungen Männer, mit denen er sich nachts für sein und ihr Vergnügen kurzzeitig das Lager geteilt hatte. Der Kuss mit Johann war etwas vollkommen anderes gewesen und das war der eigentliche Grund, warum er Johanns Stube am Morgen fluchtartig verlassen und sich seitdem ziel- und kopflos in der Stadt herumgetrieben hatte, bis er ausgerechnet am Grab seiner Mutter gelandet war, an die nur wenige Erinnerungen hatte.
Aber zu diesen wenigen, kostbaren Erinnerungen gehörten die an ihre Liebe und ihre Güte, einzigartig bisher in seinem Leben, denn nie wieder war er einem anderen Menschen so nahegekommen. Im Findelhaus war er zu sehr mit sich selbst, seiner Trauer, seiner Wut und dem täglichen Kampf ums Überleben beschäftigt gewesen, um Freundschaften zu schließen. Während seiner ständig wechselnden Heuer an Bord der verschiedenen Schiffe hatte er Kameraden und Bettgefährten gefunden, hatte sich aber niemals die Mühe gemacht sich mit einem dieser Männer näher anzufreunden. Die Mühe lohnte sich einfach nicht, da die nächste Heuer meist ein anderes Schiff und eine andere Mannschaft bedeuteten und nur selten blieb man mit mehreren Leuten auch über längere Zeit zusammen. Von der Mannschaft der 'Agnes' hatte er bisher nur mit Petters, Fedder und Lutz bereits mehrfach zusammengearbeitet. Insbesondere Fedder und der Schiffer waren ihm demnach näher als die meisten anderen Menschen. Allerdings hatte er weder mit Fedder noch mit dem Schiffer je das Bett geteilt.
Johann dagegen hatte es irgendwie von Anfang an geschafft, sich einen Weg unter seine Haut zu wurmen. Und nach ihren anfänglichen Zwistigkeiten war es ihm zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlich wichtig gewesen, mit jemandem Freundschaft zu schließen. Doch wenn er jetzt über die Ereignisse des Morgens nachdachte, musste er sich selbst gegenüber zugeben, dass ihm die Freundschaft zu Johann bald und schon seit einiger Zeit nicht mehr gereicht hatte. Johann war mehr als ein Freund, mehr als ein möglicher Bettgefährte. Johann war die erste Person, von der Morten beides wollte. Er wollte Johanns Körper ebenso wie seinen Geist, seine Hingabe ebenso wie seine Freundschaft. Und er wollte Johann ganz und gar für sich.
Es erschreckte ihn, weil diese Empfindungen so ganz anders waren und weit über das hinaus gingen, was er bisher gefühlt hatte. Und er hatte eine Ahnung, dass diese Gefühle etwas Großes bedeuteten, etwas, von dem er bisher immer nur gehört, es aber noch nie am eigenen Leib erfahren hatte. Aber gleichzeitig wusste er auch, dass es zu spät war und dass ihm gar nichts anderes mehr übrig blieb, als zu Johann zurückzukehren in der Hoffnung, dass es diesem ähnlich ginge wie ihm und gleichzeitig mit der Angst, dass er ihn zurückweisen würde. Morten wusste, dass er sich Johanns Urteil stellen musste, weil er selbst nicht mehr zurückkonnte. Er war zu weit gegangen, hatte sich zu sehr auf seine Gefühle für Johann eingelassen, um noch einmal zurück zu können. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als sich in Johanns Hände zu begeben und dessen Urteilsspruch abzuwarten. Eine Situation, die für Morten vollkommen neu und deshalb auch erschreckend war, weil er bisher immer peinlich darauf bedacht gewesen war, sich von niemandem abhängig zu machen.
DU LIEST GERADE
Bryggen
Historical FictionLübeck zur Hansezeit im Jahr 1391 - Kaufmannssohn Johann verlässt sein wohlbehütetes Elternhaus und macht sich auf die gefährliche Fahrt nach Tyskebryggen in Bergen. Es verspricht, das Abenteuer seines Lebens zu werden. Doch dann begegnet er Morten...