Kapitel 17
„Bergen in Sicht!"
Harros helles Kinderstimmchen aus dem Krähennest hoch über ihm bestätigte Morten nur, was er sowieso schon wusste. In Kürze würde die 'Agnes' in Bergen einlaufen und damit das Ziel ihrer Reise erreichen.
Morten musste nicht, so wie Johann in diesem Moment, auf dem Bugkastell stehen, um bereits aus der Ferne einen Blick auf die Hafenstadt zu erhaschen. Er kannte das Bild zur Genüge aus elf Jahren, die er bereits zur See fuhr und den Erinnerungen aus seiner Kindheit. Er sah die beiden langgezogenen Landzungen, an deren Ufern sich die Häuser der Bewohner Bergens drängten. Er sah die Stadtmauer, die auch Teile der Ufer beherrschte. Und er sah den befestigten Hafen zwischen den beiden Landzungen vor sich, an deren östlichen Seite die Burg thronte und daneben Bryggen mit den etwa zwanzig nebeneinanderliegenden Höfen, die fest in deutscher Kaufmannshand waren.
Morten hatte jedes Mal ein zwiespältiges Gefühl, wenn er sich seiner Heimatstadt näherte. Auf der einen Seite hatte er keine allzu guten Erinnerungen an die Jahre seiner Kindheit, die er dort verbracht hatte. Auf der anderen Seite lagen in dieser Stadt seine Wurzeln, das Grab seiner Mutter. Die Stadt war ihm so vertraut, wie keine andere auf der Welt, ebenso wie die Menschen dort, die seine Sprache sprachen und unter demselben Sternenhimmel aufgewachsen waren wie er. Ebenso sehr, wie er damals mit acht Jahren nicht erwarten konnte, Bergen und sein persönliches Elend hinter sich zu lassen, konnte er es bei jeder Rückkehr kaum erwarten, sich wieder unter die Menschen seiner Kindheit zu mischen und einzutauchen in diese Stadt, die ihn nun, viele Jahre später, ganz anders empfing. Aus dem Findelkind von damals war ein Mann geworden, der allen Widrigkeiten zum Trotz etwas aus sich gemacht hatte.
Doch als die ‚Agnes' nun zwischen unzähligen Schiffen im Hafen von Bergen anlegte, verspürte Morten keine Sehnsucht nach Bergens Spelunken und Kneipen weitab von Tyskebryggen mit seiner überwiegend deutschen Bevölkerung. Dieses Mal wollte er in Tyskebryggen zu bleiben. Denn dieses Mal gab es Johann und Morten hatte nicht vor, freiwillig auch nur einen Tag Landgang mit Johann zu verpassen, solange dieser ihm nicht deutlich zu verstehen gab, dass seine Anwesenheit nicht mehr gewünscht war.
Natürlich wusste er, dass Johann nicht zu seinem Vergnügen in Bergen war, sondern in den nächsten Tagen hart würde arbeiten müssen, um die Ladung der ‚Agnes' zu verkaufen und den Laderaum der ‚Agnes' wieder mit neuer Ladung zu füllen. Aber das würde ihn nicht abschrecken. Er kannte Johann inzwischen gut genug und wusste, wie sehr er sich trotz dieser Aufgabe darauf freute, Bergen kennen zu lernen. Und wer war besser als er dazu geeignet, den Fremdenführer zu spielen? Er würde dies Johann nur ab und zu wieder ins Gedächtnis rufen müssen, wenn dieser zu sehr von seiner Aufgabe vereinnahmt zu werden drohte und dafür war es notwendig, eben so oft wie möglich in Johanns Nähe zu sein.
So stellte Morten sicher, dass er Seite an Seite mit Johann das Schiff verließ, nachdem die 'Agnes' sicher im Hafen vertäut war. Petters schloss sich ihnen an, um Johann den Weg zum Kontor der Familie Benecke zu weisen.
Verwunderung und Aufregung standen Johann ins Gesicht geschrieben, als er sich während ihres kurzen Fußweges immer wieder umsah. Morten, der versuchte Bryggen mit Johanns Augen zu sehen, konnte es ihm nicht verübeln. Es war atemberaubend. Der weiträumige Hafen war überfüllt mit Schiffen aus aller Herren Länder, die Ausgangspunkte oder Ziele eines nie enden wollenden Stromes von mit Handelsgütern beladenen Menschen waren. Dazwischen standen die Aufseher und Vorarbeiter, die den Transport der Waren überwachten, Befehle in den verschiedensten Sprachen brüllten und ein riesiges Spektakel veranstalteten, um sich über den allgemein herrschenden Lärm hinwegzusetzen. Kinder sausten zwischen den Beinen der Erwachsenen herum, neugierig, unbändig und sicherlich auf das eine oder andere Beutestück aus, das in dem ganzen Trubel aus Unachtsamkeit verloren gehen würde. Ihnen folgten wüste Beschimpfungen der schwer beladenen Seeleute und Arbeiter, die nicht selten beinahe das Gleichgewicht verloren, wenn sich die Kinder zu ungestüm an ihnen vorbei drängten. Über dieser pulsierenden Vielfalt thronten die Häuserfronten Bryggens, mehrstöckige Holzgebäude mit Sodendächern, lange Reihen von hintereinander gebauten Gebäuden, den Höfen, von denen nur eine Schmalseite auf die Bucht blickte, die übrigen Kontore dagegen nur durch schmale Gassen über Leitern und Treppen erreicht werden konnten. In den meisten dieser Höfe ging es zu wie in einem Taubenschlag. Arbeiter gingen hinein und hinaus, trugen Waren oder hatten diese gerade abgeladen. Andere verluden ihre Last in die Flaschenzüge, um sie sodann nach ganz oben in den Speicher zu ziehen. Ein buntes Durcheinander, ein reges, lautes Treiben an einem Ort, der vor Wohlstand nur so zu strotzen schien und Morten konnte gut verstehen, dass dies ganz offensichtlich Eindruck auf Johann machte.
DU LIEST GERADE
Bryggen
Historical FictionLübeck zur Hansezeit im Jahr 1391 - Kaufmannssohn Johann verlässt sein wohlbehütetes Elternhaus und macht sich auf die gefährliche Fahrt nach Tyskebryggen in Bergen. Es verspricht, das Abenteuer seines Lebens zu werden. Doch dann begegnet er Morten...